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Vorschusslorbeeren für die Offiziellen beginnen zu welken


In den ersten Monaten der Sonderoperation hatten fast 80 Prozent der Bürger Russlands gegenüber den Offiziellen ein „vorgeschossenes Vertrauen“, Vorschusslorbeeren, empfunden, das mit Hoffnungen auf eine gerechtere Transformation des Wirtschaftsmodells verbunden war. Entsprechend den Ergebnissen des III. Quartals hat der Grad dieses „vorgeschossenen Vertrauens“ begonnen, eine Talfahrt zu unternehmen. Festzustellen ist eine Zunahme der pessimistischen Erwartungen vor dem Hintergrund des Ausbleibens von Veränderungen zum Besseren. Solche Veränderungen der wirtschaftlichen Erwartungen der Bevölkerung beschreiben Spezialisten des Instituts für Soziologie und des für volkswirtschaftliche Prognostizierung (IVP) der Russischen Akademie der Wissenschaften. Politologen halten die Beschreibung für die gesellschaftlichen Stimmungen in Russland für eine durchaus adäquate.

Die neue Quartalsprognose des Instituts für volkswirtschaftliche Prognostizierung der Russischen AdW enthält eine ausführliche Beschreibung der wirtschaftlichen Erwartungen der Bevölkerung, aber auch Empfehlungen an die Regierung, dem Land ein objektiveres Bild von der sich entwickelnden Krise zu vermitteln. Andernfalls würden die Offiziellen der Russischen Föderation riskieren, mit betrogenen überzogenen Hoffnungen der Bürger konfrontiert zu werden. Wirtschaftsexperten und Soziologen empfehlen den Offiziellen, die wesentlichen Unterschiede bei der Wahrnehmung der gegenwärtigen Krise durch die verschiedenen Gruppen von Bürgern zu berücksichtigen. In der Russischen Föderation existieren deutlich zu fixierende Bürgergruppen mit unterschiedlichen wirtschaftlichen Erwartungen und sich unterscheidenden Parametern für eine Verbesserung der Situation in der Wirtschaft.

Bevölkerungsbefragungen, die im März und Mai dieses Jahres durchgeführt wurden, haben bei 76 Prozent der Befragten das Bestehen eines „vorgeschossenen Vertrauens“ für die den Präsidenten und die Regierung gezeigt. Diese Vorschusslorbeeren standen mit den Hoffnungen auf sozial-ökonomische Veränderungen nach Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine in einem Zusammenhang. Russlands Bürger hatten erwartet, dass der Konflikt mit dem Westen zwingen werde, radikale Maßnahmen zur Änderung des sozial-ökonomischen Modells Russlands zu ergreifen, und erlaube, den „Gesellschaftsvertrag“ in eine gerechtere Richtung zu verändern. In der ersten Jahreshälfte waren die Bürger der Auffassung, dass die begonnene Krise schon nicht erlauben werde, zum alten Wirtschaftsmodell der Jahre 2012-2022 zurückzukehren. „Das Monitoring entsprechend der Bilanz des dritten Quartals zeigt, dass der Grad des „vorgeschossenen Vertrauens“ für die Regierung zurückzugehen begonnen hat. Festgestellt wird eine Zunahme der pessimistischen Erwartungen vor dem Hintergrund des Ausbleibens von Veränderungen zum Besseren“, unterstreichen die Soziologen.

Die Erwartungen der Bevölkerung Russlands hängen damit zusammen, dass in der Praxis ein inertes, ein Trägheitsszenario realisiert wird, das von der überwiegenden Mehrheit (über 80 Prozent der erwachsenen Bürger Russlands) als ein subjektiv pessimistisches aufgefasst wird, das Russland in eine Sackgasse führt. „Ein derartiges Szenario birgt aus politisch-psychologischer Sicht wesentliche Risiken für eine innere Destabilisierung in sich“, warnen die Wissenschaftler. Eine Verschlechterung der makroökonomischen Situation werden rund 34 Prozent der Befragten als einen Beleg für die Ineffektivität der Wirtschaftspolitik auffassen.

Hinsichtlich der Indikatoren zur Verbesserung der Wirtschaftssituation ist die bekannte Unterteilung der russischen Bevölkerung in eine Verbraucherklasse, sozial abhängige Gruppe und den wirtschaftlich aktiven Teil der Gesellschaft aufgetreten. Die Soziologen haben diese Gruppen benannt: „gegenüber der Entwicklung der Industrie empfindliche“ (34 Prozent), „empfindliche gegenüber einer sozialen Unterstützung“ und „gegenüber einer Entwicklung des Dienstleistungsbereichs und der Verteidigung der Rechte empfindliche“ (18 Prozent). Es gibt da aber auch noch etwa 14 Prozent Gleichgültige. Für die gegenüber einer Entwicklung der Industrie sensiblen Menschen werden die Anhebung des Etats für die wissenschaftlich-technologische Entwicklung des Landes, die Wiederaufnahme der Arbeit der stillgelegten Industrieunternehmen, eine erfolgreiche Importsubstitution und die Korruptionsbekämpfung ein Anzeichen für eine Veränderung der Situation im Land zum Besseren sein. Für die gegenüber einer sozialen Unterstützung sensiblen Menschen sind eine Verringerung der Preise und Beihilfen seitens des Staates, aber auch ein Sieg in der Sonderoperation sowie eine Verstärkung der staatlichen Kontrolle im Wirtschaftsbereich wichtig. Für die sensiblen Menschen in Bezug auf eine Entwicklung des Dienstleistungsbereichs und des Schutzes der Rechte sind die Entwicklung des Tourismus, die Wiederaufnahme der Arbeit der Kinos sowie die Eröffnung neuer Cafés und Restaurants wichtig.

Für das Vertrauen in die Antikrisenpolitik des Staates müssen die Unterschiede in der subjektiven Bedeutsamkeit der einen oder anderen Parameter berücksichtigt werden. Für die einen ist die Wiederaufnahme der Arbeit der stillgelegten Industrieunternehmen wichtiger, für andere – die Verringerung der Preise für Gegenstände des täglichen Bedarfs und für dritte – die Beseitigung des Mangels an Importwaren wichtiger, betonen die Wissenschaftler. Das sich herausgebildete Bild von den Erwartungen der Bevölkerung Russlands mache ein optimistisches Szenario im Falle der offiziellen Bekanntgabe einer Strategie zur Umgestaltung der Wirtschaft der Russischen Föderation namens der Regierung oder des Präsidenten möglich, meint man in den Akademie-Instituten. „Eine derartige Linie erlaubt, Zeit für die Realisierung einer Wirtschaftspolitik ohne wesentliche Risiken in Bezug einer inneren Destabilisierung bei jeglichen makroökonomischen Parametern zu gewinnen“, meinen die Wirtschaftsexperten und Soziologen.

„Für eine Verhinderung des Risikos überzogener Erwartungen muss man ein differenzierteres Bild von den wirtschaftlichen Prozessen im Land gewinnen. Hervorgehoben werden müssen nicht nur positive Veränderungen, sondern auch jene Wirtschaftsbereiche, wo die Wiederbelebung eine langwierige sein wird. Das Informieren über die Wirtschaftssituation aus dem Mund von Vertretern der Regierung und anderer offizieller Quellen darf keinen einseitigen optimistischen Charakter tragen“, empfehlen die Wissenschaftler. Selbst bei einer teilweisen Nichtübereinstimmung der Realität mit den Erwartungen der Bevölkerung sei ein Rückgang des Vertrauens gegenüber der Regierung wahrscheinlich, betont man im IVP der Russischen AdW.

„Diese Befragungen reflektieren adäquat die wirtschaftlichen Stimmungen im Land. Die Bevölkerung nimmt ohne Begeisterung die langjährige wirtschaftliche Stagnation zur Kenntnis. Und eine ultrakonservative Wirtschaftspolitik fassen unsere Bürger als eine veraltete und offenkundig nicht den neuen Umständen entsprechende auf“, kommentiert Sergej Markow, der Direktor des Instituts für politische Studien. Nach seinen Worten befinde sich die Bevölkerung der Russischen Föderation im Zustand einer Frustration aufgrund der großen sozialen Ungleichheit und der Unterstützung der Herrschenden für einen zur Schau gestellten, also Vorzeige-Prestige-Konsum.