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Wahlen in der Ukraine sind vorerst unmöglich


 

Der Präsident der Ukraine, Wladimir Selenskij, hat erklärt, dass es unter den Bedingungen des Kriegszustands unmöglich sei, Wahlen des Staatsoberhaupts durchzuführen. Er rief gleichfalls auf, keine politische Spaltung in der Gesellschaft hervorzurufen. Der Kriegszustand in der Ukraine ist am Mittwoch bis zum 14. Februar kommenden Jahres verlängert worden (wie auch die generelle Mobilmachung – Anmerkung der Redaktion). Man hatte aber geplant, die Wahlen im März abzuhalten. Und jetzt werden sie wohl kaum in diesem Monat abgehalten.

Während eines Kriegszustands führt man wirklich keine Wahlen durch. Man kann sagen, dass Selenskij einfach Offensichtliches konstatierte. Der bewaffnete Konflikt zwischen Moskau und Kiew (der auf Befehl des russischen Präsidenten Wladimir Putin als sogenannte militärische Sonderoperation begann – Anmerkung der Redaktion) dauert bereits über anderthalb Jahre an. Nicht eine der Seite lässt sich auf einen Kompromiss ein. Alle bestehen auf das Erreichen der erklärten Ziele. Dass in den nächsten Monaten mit einem Schlag Bedingungen geschaffen werden, unter denen es möglich wird, das Regime des Kriegszustands aufzuheben, ist wohl kaum realistisch. Zumal für Kiew solche Bedingungen ein Sieg in dem Konflikt und eine Rückgabe der von Russland integrierten Territorien wären. (Was Russlands Bürger von einem Sieg des Landes in diesem Konflikt erwarten – im Post Scriptum.) In der Administration von Selenskij betont man, dass der Zustand eines auf Eis gelegten Konflikts Kiew nicht recht sei.

Als möglichen Zeitraum (März 2024) nennt man unter anderem auch deshalb, weil die ukrainischen Offiziellen ihren Bürgern, den Wählern nicht die Hoffnungen auf ein normales Leben nehmen können. Ein Kriegszustand wird schließlich auch nicht unbefristet verlängert, was genauer den Realitäten „auf dem Boden“ entsprechen würde, sondern für mehrere Monate. Das Datum für Wahlen ist eine Zäsur im Rahmen einer Normalisierung. Dies ist etwas aus dem Bereich der politischen Psychologie. Termine kann man schieben, doch es muss Licht am Ende des Tunnels zu sehen sein.

Mit einem Canceln der Wahlen ohne neues Datum und möglichen künftigen Terminen wird Wladimir Selenskij wohl kaum politisch punkten. Wenn solch ein Konflikt beginnt, werden die amtierenden Herrschenden meistens populäre. Sie nutzen die Ressource einer Konsolidierung und patriotische Stimmungen aus. Ihr Narrativ dominiert. Das reale politische Leben wird aber eingefroren. Gerade dies ist auch mit Selenskij geschehen. Dies ist der Effekt eines erzwungenen Zusammenschlusses um einen legitimen, das heißt einen gewählten Leader.

Ein kurzfristiger Konflikt schafft es nicht, zu einer „neuen Normalität“ zu werden. Dies ist eine chaotische Zeit, in der die Menschen mit dem Herzen, vorrangig emotional entscheiden. Es ist nicht so wichtig, ob der Politiker in dieser kurzen Zeit die lautstark verkündeten Ziele erreicht hat, zum Beispiel ein Zurückholen von Territorien oder ein Sieg als einen solchen. Wichtig ist, dass er die kollektiven Emotionen steuerte, richtige, oft symbolische Taten vornahm.

Sobald sich aber der Konflikt in die Länge zieht, hört dieser Mechanismus der Popularität ohne zusätzliche Maßnahmen allmählich auf zu wirken. Wenn man einmal annimmt (rein theoretisch), dass man in der Ukraine im Sommer letzten Jahres abgehalten hätte, hätte Selenskij einfach keine Konkurrenten gehabt. Nunmehr aber ist eine Konkurrenz – und eine durchaus erfolgreiche – möglich. Wenn sich der Konflikt in eine besorgniserregende Norm verwandelt, stellen die Bürger dem mit Macht ausgestatteten Politiker Frage. Man vergleicht die Realität mit seinen Versprechen. Diese Versprechen erklingen oft auf einer Welle von Emotionen. Wie sie umgesetzt werden sollen, ist unklar.

Wenn unter solchen Bedingungen ein Präsident beginnt, an die Unmöglichkeit von Wahlen zu erinnern, so klingt dies ganz und gar nicht wie ein Erinnern an Offenkundiges. Es scheint, dass darin eine Angst eines Verlierens liegt. Ja, unter den sich herausgebildeten Bedingungen hat der Präsident der Ukraine ausreichend Ressourcen und Hebel, um an der Macht zu bleiben, selbst bei einem Ingangsetzen eines Mechanismus zur Legitimierung. Doch Wahlen stellen ein normales politisches Feld wieder her. Auf ihm findet sich Platz für ein Anzweifeln. Offen können alternative Vorschläge erklingen. Und sie sind bereits zu vernehmen. Einige Anwärter auf das Präsidentenamt schlagen vor, auf den Donbass zu verzichten und sich gen NATO zu bewegen.

Bei Wahlen kann sich herausstellen, dass solche Vorschläge mehr den Stimmungen der Menschen entsprechen. Selenskij wird aber gezwungen sein, auf der Position einer Kompromisslosigkeit zu bleiben und sie zu verteidigen, wobei er vorrangig emotionale Argumente nutzt und nicht auf reale Erfolge verweist.

Post Scriptum:

Das in Moskau ansässige Meinungsforschungszentrum „Russian Field“ hat in der 3. Oktober-Dekade landesweit 1611 Personen die Frage gestellt: Welche Ergebnisse der militärischen Sonderoperation kann man nach Ihrer persönlichen Meinung als einen Sieg Russlands ansehen? 23 Prozent erklärten, dass die Angliederung eines Teils der neuen Territorien und deren Verankerung im russischen Staatsverband mit einem Sieg gleichzusetzen seien. 13 Prozent nannten eine völlige Kapitulation der Ukraine. Neun Prozent der Befragten setzten ein Gleichheitszeichen zwischen einem Sieg Russlands und der Vernichtung der Ukraine als Land bzw. die Eingliederung der Ukraine in den Bestand der Russischen Föderation. Jeweils fünf Prozent meinten, dass eine Erfüllung aller Ziele der sogenannten militärischen Sonderoperation, die Vernichtung des Faschismus in der Ukraine bzw. ein Friedensabkomme zu russischen Bedingungen (Festschreibung der neuen Territorien als Teil Russlands und ein blockfreier Status der Ukraine) einem Sieg gleichzusetzen sei. Nur vier Prozent sehen den Sturz der gegenwärtigen Herrschenden in der Ukraine als einen Sieg, und drei Prozent sehen ein Zurückdrängen der Grenzen der NATO vom Territorium Russlands sowie eine Denationalisierung und Demobilisierung der Ukraine als einen Erfolg der militärischen Sonderoperation.