Die Idee, eine Untersuchung über die Entwicklungswege des russischen Staates auf den Ruinen der Sowjetunion speziell für den deutschen Leser zu verfassen, war mir 2015 gekommen. Damals hatte ein alter Bekannter aus den 90er Jahren, der Hamburger Anwalt Eckhard Schuetze, nachdem er mein erstes Buch gelesen hatte, das der Außenpolitik Russlands nach dem Machtantritt von Präsident Wladimir Putin gewidmet war, angeraten, eine deutschsprachige Version vorzubereiten. Das Buch „Putin: gestern heute und morgen“ war 2012 im Verlag der „NG“ erschienen. Ich hatte mehrere Jahre gebraucht, um mit Unterstützung des gleichen Anwalts aus der Hansestadt die deutschsprachige Variante niederzuschreiben. Natürlich haben sich aber das Buch und sein Inhalt wesentlich verändert. Im Endergebnis wurde es eine historische Untersuchung auf 247 Seiten mit 23 Kapiteln und einem Vorwort über die „tiefgründige Nation“, das von dem Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Russischen Föderation Natalia Iwanowa verfasst wurde, die das Amt der stellvertretenden Direktorin des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen bekleidete. Um den Leser anzulocken, ist das Buch auch mit dem Titel versehen worden: „Putin: gestern heute und morgen“, aber auch mit dem Untertitel: „Russland auf dem Weg in die Top-Nationen der Welt“. Gerade der Titel spielte im Weiteren auch eine negative Rolle beim Verkauf des Ende Dezember 2021 erschienenen Buches. Doch davor hatte es die Suche nach einem Verlag und wesentliche Veränderungen im Zusammenhang mit neuen Ereignissen, darunter auch der Coronavirus-Pandemie, die den Prozess der Deglobalisierung der Weltwirtschaft beeinflusste, über sich ergehen lassen müssen. Ja und auch im Zusammenhang mit dem eigentlichen Prozess der Deglobalisierung, den der Machtantritt von Präsident Donald Trump in den USA beschleunigt hatte.
Allem nach zu urteilen, übte der Titel sowohl eine anziehende als auch abschreckende Wirkung auf zahlreiche deutsche Verlage aus. Letzten Endes gelang es, im Südwesten Deutschlands den kleinen Gerhard-Hess-Verlag ausfindig zu machen, der auch das Buch in einer geringen Auflage herausbrachte (ISBN 978-3-87336-693-0). Anfang Januar dieses Jahres gelangte die Auflage in den deutschen Buchhandel.
Eingeleitet wird das Buch durch Überlegungen der weißrussischen Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch über Russland. Es ist klar, dass sie gerade in Russland einen widersprüchlichen Ruf hat, doch für den westlichen Leser, für den auch das Buch bestimmt ist, ist Alexijewitsch eine Autorität. Aber ihre Zeilen „Russland ist stets ein Vorgefühl, stets in Projekt, das nie bis zu Ende realisiert worden ist“ klingen in gewisser Weise prophetisch, da gleich vom Beginn der Herausbildung des russischen Staates an Versuche unternommen wurden, seine Entwicklung einzuschränken und ihn zu einer rein regionalen Macht zu reduzieren.
Daher ist im Grunde genommen das ganze Buch auch dem Thema der Herausbildung des jetzt bereits neuen Staates auf dem Territorium Russlands und dem Streben, aus dem regionalen Rahmen herauszukommen, in den es die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion versetzt hatten, gewidmet. Es gibt nichts Erstaunliches darin, dass dieser Zeitraum, der mit dem Einzug von Wladimir Putin in den Kreml begann, gerade mit dieser historischen Persönlichkeit verbunden ist. Wie einst der russische Oligarch Pjotr Awen in einem Interview für die Moskauer Wirtschaftszeitung „Kommersant“ betonte, „hat die Umgebung Jelzins, indem sie Putin zum Premierminister und dann auch zu seinem Nachfolger ernannte, anstelle eines fantastischen Nichtdemokraten (der Jelzin tatsächlich gewesen war) einen undemokratischen Liberalen bekommen“.
Erstmals wurde eine Konzeption für die russische Außenpolitik durch Putin im Jahr 2000 formuliert. Im Grunde genommen hatte gerade die Enttäuschung über die Politik der Vereinigten Staaten in Bezug auf Russland, deren Führung es vorgezogen hatte, in Moskau einen im Kalten Krieg Besiegten zu sehen, den russischen Staatschef auch veranlasst, auf Europa zu setzen. In diesem Zusammenhang ist die Analyse der kroatischen Internetzeitung „Advance“ (www.advance.hr) interessant, die behauptete, dass Russland sowohl in den 1990er als auch in den Nulljahren nie den Gedanken von einem EU-Beitritt aufgegeben hätte. Wie das russische Staatsoberhaupt angenommen hatte, hätte ein Bündnis mit Europa beide Seiten in eine Supermacht verwandelt, die in der Lage gewesen wäre, mit den USA zu konkurrieren. Nach etwa zehn Jahren begriff Putin den unrealistischen Charakter seiner Pläne für die Etablierung solch einer eurasischen Supermacht. Im Oktober 2012 erklärte er dies bei einem Treffen des Diskussionsklubs „Valdai“. Diese gewisse Ernüchterung beförderte die schwere Krise in den Beziehungen Europas und Russlands, die mit dem Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Helsinki zusammenhing. Es hatte Moskau wegen der „wahllosen Anwendung von Gewalt in Tschetschenien“ verurteilt und zur gleichen Zeit für die Türkei, das die kurdische Befreiungsbewegung unterdrückt hatte, die Perspektive für einen EU-Beitritt eröffnet. Die selektive Vorgehensweise Europas und die Doppelmoral seiner Spitzenvertreter waren offensichtlich.
In dem Buch sind die Hauptetappen der „Ernüchterung“ des russischen Staatsoberhauptes von den Ideen für eine überaus enge Zusammenarbeit mit dem Westen und Europa in Sonderheit widergespiegelt worden. Für ihn war dies ein schwerer und qualvoller Weg des Begreifens von Russlands Platz in der heutigen Welt. Alle diese Versuche und Schwankungen werden im Buch dargestellt. Genau solch eines wie die „zivilisierte Welt“ im Westen zu werden, ist Russland in keiner Weise gelungen. Im Endergebnis wurden auch die berüchtigten „roten“ Linie aufgezeigt, die zu den Ereignissen geführt haben, die nach dem 24. Februar 2022 die Welt in ein Gestern und ein Heute geteilt haben. Die Etappen auf dem Weg dazu — sowohl Putins Münchener Rede von 2007 als auch die Ereignisse von 2014 – sind in dem Buch ausführlich beschrieben worden.
Leider haben die Ereignisse vom 24. Februar 2022 und danach solch eine mächtige Welle der Ablehnung und Verurteilung Russlands in Deutschland ausgelöst, dass viele Buchläden begannen, wie der Verleger Horst Wörner dem Autor mitteilte, die früher bestellten Bücher zurückzusenden. Und natürlich musste er auch die geplanten Präsentationen der Arbeit im Rahmen der Internationalen Leipziger Buchmesse und an anderen Orten absagen.
Mehr noch, der Verleger schickte mir Briefe von Berufskollegen, die von ihm die Entfernung des Buches aus den Verlagsankündigungen verlangten. Anders gesagt: Das Buch soll in den Schredder. Nun, wie kann man sich in diesem Falle da nicht an die Bücherverbrennungen der Nazis 1933 erinnern, bei denen Werke der Weltliteratur zu Opfern von Flammen wurden!
Laut Angaben des deutschen Wochenmagazins „Focus“ erklärten 72 Prozent der befragten Deutschen, dass sie nach dem 24. Februar begonnen hätten, Russland schlecht wahrzunehmen. Das Markt- und Sozialforschungsinstitut INSA ermittelte, dass in dieser Hinsicht die Werte für Putin an sich noch schlechter ausfallen. Ihn akzeptieren 82 Prozent der Bürger der Bundesrepublik Deutschland nicht. Und Schuld dafür haben nicht nur die Ereignisse in der Ukraine, sondern auch das praktisch vollkommene Fehlen alternativer Informationen darüber, was dort geschieht. Die Unterdrückung der Redefreiheit und die dadurch ausgelöste einseitige Berichterstattung über das Geschehen verursachen auch diese Prozentzahlen.