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Warum die migrantenfeindliche Rhetorik erneut zu einer aktuellen geworden ist


 

 

Die russische Duma-Opposition sucht scheinbar nach einer Agenda, die ihr erlauben würde, nicht aus dem politischen Spiel herauszufallen. So hatte in der ersten Oktoberhälfte der stellvertretende Vorsitzende der LDPR-Fraktion, Jaroslaw Nilow, erklärt, dass die Migranten nur in dem Fall in die Russische Föderation kommen dürften, wenn die Regionen eine konkrete Anzahl von Spezialisten für konkrete Arbeiten anfordern würden. „Man muss das System der Ausbildung von Kadern mit den Anforderungen der Arbeitgeber synchronisieren, denn sie ziehen es vor, Ausländer einzustellen“, meint Nilow.

Zuvor hatte die Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ einen Gesetzentwurf zur Behandlung in die Staatsduma eingebracht, der unter anderem ein vollkommenes Verbot für das Einstellung von Migranten in Schulen, Krankenhäusern und Apotheken vorsieht. Wahrscheinlich wird dies auch die Arbeit der Taxi-Unternehmen betreffen. Die Partei von Sergej Mironow schlägt vor, den maximal zulässigen Anteil ausländischer Arbeitnehmer in jeder Art von Wirtschaftstätigkeit auf fünf Prozent zu begrenzen. Der 70jährige Vorsitzende von „Gerechtes Russland“ verwies auf Angaben des Innenministeriums, denen zufolge im vergangenen Jahr allein die Zahl der offiziell erfassten ausländischen Beschäftigten von 13,4 Millionen bis auf 16,9 Millionen Menschen angestiegen sei. Die Bürger würden nach Aussagen Mironows immer häufiger dem negativ gegenüberstehen.

KPRF-Chef Gennadij Sjuganow hat sich gleichfalls hinsichtlich der Anforderungen von ausländischen Arbeitskräften geäußert. Er rief dazu auf, dem Beispiel von Alexander Lukaschenko zu folgen, der in Weißrussland bereits solch eine Praxis eingeführt hätte: eine Einladung von Spezialisten mit einem Vertrag über angenommen zwei Jahre, wonach nur die bleiben, die sich besonders hervorgetan haben. Sjuganow beklagt, dass die Migranten, die nach Russland kommen, „weder unsere Sprache noch unsere Traditionen und Kultur kennen“.

Die Zahlen, die Sergej Mironow anführt, kann man teilweise (wahrscheinlich gar in erheblichem Maße) mit den wichtigen sozialen Prozessen des vergangenen Jahres erklären. Zum Beispiel mit der Reaktion der Bürger auf die militärische Sonderoperation (die bereits über 600 Tage andauert – Anmerkung der Redaktion) oder der Mobilmachung. Es ist kein Geheimnis, dass all dies zu einem Massenexodus arbeitsfähiger Bürger aus der Russischen Föderation führte. Genaue Zahlen nennt keiner. Durchdachte ernsthafte soziologische Untersuchungen zu diesem Thema sind heutzutage kaum möglich. Doch die Einwanderungswelle konnte auch aufgrund dessen einsetzen – die Bürger wechseln aus einem Wirtschaftssektor in einen anderen, es werden Nischen frei, die man ausfüllen muss.

Der Unmut der Einheimischen aufgrund des plötzlichen Zustroms von Migranten ist erklärbar und voraussagbar. Die Parteien nutzen auch diese Stimmungen aus. Es macht Sinn anzumerken, dass in den letzten Jahren die migrantenfeindliche Agenda im politischen Diskurs – wenn nicht ihre Aktualität verloren hat, so bereits nicht so akut stand wie vor zehn Jahren. Möglicherweise haben die Einwandererwellen an sich aufgehört, bemerkbare zu sein. Teilweise wurde auch das Problem mit den illegalen Einwanderern gelöst. Eventuell liegt es an brisanteren Themen, zum Beispiel der (COVID-) Pandemie. Vielleicht haben die Parteien von oben das Signal vernommen: Die migrantenfeindliche Rhetorik grenze an Nationalismus. Und die Offiziellen wollen wahrscheinlich sehr ungern, dass diese Noten in der russischen Politik anklingen.

Bis zum Jahr 2022 hatte jedoch die Opposition – darunter auch die in der Staatsduma – ein breites Spektrum anderer Themen – von einer Abrechnung mit den „wilden 90ern“ bis hin zum liberal-marktwirtschaftlichen „Paket und den Menschenrechten. Alles hat sich verändert. Das Hauptthema der letzten anderthalb Jahre, und zwar die militärische Sonderoperation Russlands in der Ukraine, wird zu keinem Gegenstand einer politischen Diskussion. Die Partei von Sergej Mironow hatte bereits den Versuch unternommen, sie zu einem Teil ihrer Message zu machen, indem sie die Söldnerfirma „Wagner“ unterstützte und sich zu einer Geisel von Radikalismus und Unvorhersehbarkeit machte. Es wird wohl kein anderer riskieren, noch einmal diesen Weg zu beschreiten.

Die Parteien tasten das Thema der Sonderoperation nicht an. Sie kritisieren nicht die Wirtschaftspolitik der Herrschenden (denn es ist nicht die Zeit dafür und „man muss sich zusammenschließen“). Anstelle dessen erhalten sie das Recht, die migrantenfeindliche Agenda erneut zu befeuern, den potenziellen gesellschaftlichen Unmut in diese Bahnen zu lenken sowie auf solch einem Feld miteinander zu konkurrieren. Da ergibt es sich, dass man heutzutage sonst nirgends politische Punkte sammeln kann.

Post Scriptum

Am Donnerstag lieferte das Untersuchungskomitee Russlands neuen Diskussionsstoff für die gegen die Einwanderer gerichtete Rhetorik. Nach Aussagen von Alexander Bastrykin, der dieses Amt leitet, sei im vergangenen Jahr die Zahl der schweren und besonders schweren Verbrechen, die durch das Untersuchungskomitee aufgeklärt werden und durch ausländische Bürger bzw. Staatenlose verübt wurden, um 37 Prozent angestiegen. Und die Tendenz hat in den ersten neun Monaten dieses Jahres angehalten. Bisher sind schon über 31.000 solcher Fälle registriert worden. Interessant ist dabei auch das soziale Porträt des straffälligen Einwanderers: 22 bis 45 Jahre alt, mit keiner vollständigen Schulbildung, einem geringen Beherrschungsgrad der russischen Sprache sowie mangelhaften Kenntnissen über die russische Kultur und Geschichte sowie die Grundlagen der Gesetzgebung.