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Warum die Verhandlungen von Moskau und Kiew im Jahr 2022 scheiterten


Das US-amerikanische Magazin „Foreign Affairs“ hat einen ausführlichen Beitrag darüber veröffentlicht, dass man die bewaffneten Konflikt Russlands und der Ukraine in einem frühen Stadium hätte beenden können. Es geht dabei natürlich um die Verhandlungen Moskaus und Kiews im Frühjahr des Jahres 2022. Die Autoren des Beitrags teilen mit, dass sie den Entwurf eines Vertrages in ihren Händen hätten, an dem damals die Delegationen gearbeitet hätten. „Foreign Affairs“ publiziert sogar Sceenshots einiger Seiten, auf denen unter anderem Garantiestaaten für die Sicherheit der Ukraine ausgewiesen werden.

Die Echtheit dieser Dokumente ist schwer zu bestätigen. Weder Moskau noch Kiew haben die Veröffentlichung kommentiert. Dabei bemühen sich die Autoren von „Foreign Affairs“, die Geschichte – soweit dies möglich ist – unparteiisch zu erzählen. Und die von ihnen unterbreitete Version darüber, warum die Verhandlungen scheiterten, widerspricht nicht dem gesunden Menschenverstand und der Logik jener Prozesse, die man in den letzten zwei Jahren beobachten konnte.

Die russischen Offiziellen und insbesondere Russlands Präsident Wladimir Putin haben mehrfach erklärt, dass Kiew im Jahr 2022 bereit gewesen sei, ein Abkommen zu unterschreiben, doch die westlichen Staaten hätten die Ukraine gestoppt. Die nunmehrige Veröffentlichung von „Foreign Affairs“ bestätigt teilweise diese Erklärungen. In ihr ist auch die Rede davon, dass der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij nach dem Abzug der russischen Truppen von Kiew an die Möglichkeit geglaubt hätte, „am Boden“ zu siegen, und davon, dass Boris Johnson, der damalige Premierminister Großbritanniens, in die Ukraine gekommen war und deren Offiziellen aufgerufen hätte, nichts zu unterschreiben. Washington sei ebenfalls nicht bereit gewesen, dem abgestimmten Vertragsentwurf zuzustimmen, und hätte die Hand Kiews festgehalten, die bereit gewesen sei, die Papiere zu unterschreiben.

In dem Beitrag werden allerdings Argumente der westlichen Staaten angeführt. Es gehe nicht, wie die Autoren schreiben, um den bösen Willen, Russland zu schaden, es in einen langwierigen Konflikt zu verwickeln, sondern um durchaus rationale Erwägungen. Vor allem sei es ungeachtet des abgefassten Vertragsentwurfs Moskau und Kiew nicht gelungen, eine Lösung dafür zu finden, wie sie den territorialen Streit beilegen, die Fragen über den Donbass und die Krim klären. All dies sei bis zu einem persönlichen Treffen von Putin und Selenskij aufgeschoben worden. Eine allzu vage Grundlage dafür, dass Washington oder London zugestimmt hätten, sich auf diese zu begeben. Vom Wesen her wurde ein Einfrieren des Konflikts vorgeschlagen – zu Garantien der westlichen Länder, Russlands und Chinas. Ihn wieder auftauen hätte man zu jeglichem Zeitpunkt können. Dies war dem Westen nicht rechtens.

Nicht rechtens waren auch die im Entwurf des Abkommens festgehaltenen Sicherheitsgarantien. Kiew hatte darauf bestanden, dass die Garanten bei einer Bedrohung der Sicherheit der Ukraine dem Land militärische Hilfe leisten sollten, dabei aber nicht kollektiv (Einberufung des UN-Sicherheitsrates usw.), sondern auf individuelle Art und Weise. Dies wurde von den westlichen Staaten als eine Falle aufgefasst. Russland war gleichfalls in der Liste der Sicherheitsgaranten ausgewiesen worden. Was wäre aber, wenn für die Ukraine gerade mit Russland ein neuer „heißer“ Konflikt begonnen hätte? Was wäre, wenn sich die Situation von 2022 ungeachtet der unterschriebenen Abkommen wiederholt hätte? Damals hätte sich ergeben, dass die USA oder Großbritannien eine direkte militärische Konfrontation mit Russland beginnen müssen. Sie hätte dazu das unterzeichnete Dokument verpflichtet. Sich auf solch ein Abenteuer einlassen konnte nicht eine der westlichen Hauptstädte.

Diese Logik wirkt auch heute. Bei möglichen Verhandlungen wird Moskau einen neutralen Status für die Ukraine erpicht sein. Kiew wird in solch einem Fall Sicherheitsgarantien fordern. Dabei können die westlichen Garanten wie auch China der ukrainischen Elite nicht zu 100 Prozent vertrauen. Ein auf Eis gelegter Territorialstreit ist dennoch ein Streit. Und auf dem Wunsch, eine Revanche zu nehmen, wurde die Politik sowohl einst als auch heute gestaltet. Was wäre, wenn die Ukraine den Konflikt wieder auftauen möchte, nachdem es sich neuer Unterstützung versicherte? Was wäre, wenn es zu einer Provokation kommt? Das Misstrauen erlaubt dem Westen nicht, weitreichende Pflichten zu übernehmen. Dies kann neben anderen Faktoren auch heute den Verhandlungsprozess ausbremsen. Der Westen kann auf Kiew Druck ausüben, ist dabei aber nicht bereit, so viel anzubieten.