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Warum man in Rusland YouTube bisher zu leben erlaubt hat


Bei dem dreitägigen Moskauer Forum „Neue Horizonte“ der russischen Gesellschaft „Wissen“ haben Vertreter der Machtorgane wichtige Erklärungen abgegeben, die die Zukunft des Internets im Land betreffen. Unter anderem sagte der Minister für Digitales Maksut Schadajew, dass in Russland eine Schließung von YouTube nicht geplant werde. Man müsse einfach eine „wettbewerbsfähige analoge Plattform“ eines Videohostings schaffen. Außenminister Sergej Lawrow erklärte, dass die russischen Bürger „nicht ohne das Internet bleiben werden“. Und Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des Präsidenten der Russischen Föderation, räumte gar eine Deblockierung von sozialen Netzwerken, die als extremistische vom russischen Staat gelabelt wurden, ein.

Im Internet kann man bereits erwartungsgemäß ironische Kommentare hinsichtlich eines „Tauwetters“ lesen. Schlussfolgerungen zu ziehen, ist natürlich verfrüht. Dennoch gibt es einen Erwartungshorizont, der durch die Ereignisse der letzten Monate vorgegeben worden ist. Man kann sagen, dass sich gerade jetzt die Zone des gewohnten Komforts für den Medienkonsum (bis zum 24. Februar) nicht so rasant verringert, wie viele vorausgesehen hatten. Die Bürger bereiteten sich auf eine sehr baldige Blockierung von YouTube, Wikipedia und sogar auf den Start einer analogen Version des Großen chinesischen Firewalls sowie auf den Übergang zu einem „souveränen“ Internet vor. Bisher ist dies nicht geschehen.

Die Logik von Blockaden und Restriktionen im Internet war eine klare. Dies ist die Logik der Sonderoperation, des Unterdrückens informationsseitiger „Feuernester“ des Gegners – der Ukraine oder des kollektiven Westens. Alle blockierten Ressourcen waren und bleiben dank VPN-Services zugängliche. Es gibt Erklärungen darüber, dass die Herrschenden gegen solche Service-Anbieter kämpfen. Man kann aber deren Handlungen wohl kaum als recht wirkungsvolle ansehen. Dies ist eine Sache der Zweckmäßigkeit. In den obersten Führungsriegen begreift man wahrscheinlich, dass der kritisch eingestellte und fortgeschrittene Teil der Gesellschaft doch alternative Informationen erhalten wird, denn er sucht sie. Wichtig war das zu erreichen, dass diese Informationen so selten wie möglich das Kernelektorat streifen, dass den Herrschenden über den Wolken liegende Ratings und eine Legitimierung jeglicher Handlungen beschert. Die Konsumangewohnheiten dieses Teils der Gesellschaft sehen keinen ständigen, keinen bewussten Besuch ausländischer Netzwerke vor. Und man musste es so bewerkstelligen, dass „falsche“ Inhalte nicht einmal zufällig zu solchen Bürgern gelangen.

Es macht Sinn anzumerken, dass auch ein Teil der fortgeschrittene Klasse die Herrschenden unterstützt. Blockierte Netzwerke wie auch YouTube sind bequem und nicht nur für die „Liberalen“, sondern auch für die „Patrioten“, darunter auch aus dem Medienbereich, gewohnte. Nicht zufällig sind die Äußerungen der TV-Moderatorin Jekaterina Andrejewa (die die Hauptnachrichtensendung des TV-Senders Channel One präsentiert – Anmerkung der Redaktion), die nach eigenen Aussagen nach wie vor verbotene Ressourcen per VPN nutzt. Viele Vertreter der Elite gehören zur gebildeten Klasse, genauso wie auch deren Familienmitglieder und Kinder. Die von Präsident Putin befohlene Sonderoperation ist nicht schnell abgeschlossen worden, dauert bereits die 13. Woche an. Und die Unbequemlichkeiten des Konsums haben sich als langfristige erwiesen. Und die Frage über die Zukunft von YouTube und des Internets stellen Schadajew und Lawrow bei Foren ganz und gar keine Oppositionellen bzw. Revolutionäre, sondern sie kommen von den Herrschenden loyal gegenüberstehende Menschen. Sollten die Herrschenden ihnen Gehör schenken? Es scheint – ja.

Wobei sich innerhalb der bisher fast drei Monate währenden Sonderoperation die russischen Offiziellen ganz bestimmt „Lorbeeren“ verdient haben, dies ist die Kontrolle über den Medienbereich in der Russischen Föderation. Im offenen und öffentlichen Internetraum ist der Standpunkt der Herrschenden ein absolut dominierender. Für jeden, der einfach Nachrichten erhalten möchte, gibt es sofort eine Interpretationsmatrix. Sie soll vollkommen das einfache Bedürfnis befriedigen. Die Aufgabe der machttreuen Medien (die sich langfristig in den Augen vieler Bürger Russlands diskreditieren – Anmerkung der Redaktion) und der restriktiven Gesetze bestand darin, dass das Narrativ für eine bedeutende Mehrheit ein überzeugendes ist. Und es ist eingestandenermaßen gelungen, dies zu tun, wenn mitunter auch mit grobschlächtigen Methoden. Um das schwierige Bedürfnis zu befriedigen, die Narrative zu vergleichen, den Versuch zu unternehmen, auf analytischem Wege zu einer angenommenen Wahrheit zu gelangen, muss man Informationen suchen. Und nicht jeder Vogel fliegt bis zur Mitte dieses Flusses (Anlehnung an ein Zitat aus der Erzählung „Furchtbare Rache“ von Nikolaj Gogol, die 1832 im 2. Teil seiner Erzählungsbände „Abende auf dem Weiler bei Dikanka“ veröffentlicht wurde – Anmerkung der Redaktion).

Die Maschine von Restriktionen wird selten abgestellt. Aber sowohl das Elektorat der Herrschenden als auch die Herrschenden an sich sind inhomogen. Für viele sind YouTube oder Wikipedia bequem. Dazu gibt es in Russland nichts Analoges. Sie unter den Bedingungen einer Medien-Dominanz der Herrschenden auf die Strecke zu bringen, ist ein unnötiger Energieaufwand. Auf jeden Fall jetzt. Die Maschine kann man aber zu jeglichem Zeitpunkt aufs Neue starten.