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Warum Patriarch Kirill an Einfluss verliert


Jeden Monat veröffentlicht die Agentur für politische und Wirtschaftskommunikation in der „NG“ ein Rating der 100 führenden Politiker Russlands. Laut den Angaben für den März dieses Jahres belegte der Patriarch von Moskau und Ganz Russland Kirill in dieser Tabelle den 34. Platz. Dies ist der schlechteste Wert in der ganzen Zeit seiner Führung der Russischen orthodoxen Kirche.

Der Rückgang des Einflusses des Patriarchen begann, als man die Russische orthodoxe Kirche nach einem gewissen Widerstand doch nötigte, ab dem 13. April des vergangenen Jahres die Gotteshäuser für die Gläubigen aufgrund der Gefahr einer Verbreitung der Coronavirus-Infektion zu schließen. Dabei hatte sich noch Ende April des letzten Jahres der Name von Patriarch Kirill auf dem 20. Rang des Ratings befunden. Im Mai 2020 rutschte er auf die 23. Position ab. Und im Juni kam er nur auf den 26. Platz. Im Oktober hatte sich das Kirchenoberhaupt in eine Selbstisolierung begeben und seine Skite in Peredelkino vor den Toren Moskaus praktisch nicht verlassen.

Das höchste Rating hatte das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche im Jahr 2009, als er gerade den Patriarchen-Thron bestiegen hatte. Damals lag Patriarch Kirill auf dem 6. Rang in der Liste der 100 einflussreichsten Politiker Russlands. Im Jahr zuvor, im Jahr 2008, war der damalige Patriarch Alexij II. auf dem 10. Platz. Bis zum Jahr 2015 gehörte Patriarch Kirill zur Top 10 der politischen Elite des Landes.

„In den unterschiedlichsten Untersuchungen, die in den letzten Jahren durchgeführt wurden, ergab sich das Rating von Patriarch Kirill aus drei Komponenten – der medialen, der sozialen (religiösen) und politischen“, erläuterte der „NG“ der Leiter des Zentrums für das Studium von Religion und Gesellschaft am Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften, Roman Lunkin. „Im letzten Jahr ist die erste Komponente des Ratings aufgrund der Pandemie auf natürliche Art und Weise eingebrochen. Der Patriarch war sehr wenig im medialen Raum präsent und dementsprechend waren gemäß denn Gesetzen der Soziologie und des Massenbewusstseins, auf das die föderalen TV-Kanäle und das Internet einwirken, die Werte des Patriarchen nach unten gegangen. Was insgesamt die Autorität des Patriarchen als Kirchen- und politischer Vertreter angeht, hatte das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche in einigen Untersuchungen höchste Werte in den Umfragen erzielt, die die Achtung ihm gegenüber als Kirchenoberhaupt betrafen. Dabei unterschied sich das religiöse Rating oft vom politischen. Die Menschen sind geneigt, den Patriarchen als einen Kirchenführer zu achten, und vertrauen der Autorität der Kirche, betrachten ihn aber nicht als einen Politiker. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass die Menschen insgesamt nicht möchten, dass sich die Kirche mit einer politischen Tätigkeit befasst. In der Regel werden aber bei den Befragungen die politische und die religiöse Komponente des Einflusses des Patriarchen nicht besonders getrennt. Und es ist mitunter sehr schwer zu verstehen, warum das Rating gefallen ist“.

Der Experte sieht keine Verbindung der Verringerung des persönlichen Einflusses des Patriarchen mit dem, was jüngst das staatliche Allrussische Meinungsforschungszentrum (VTsIOM) ermittelte: Der Anteil derjenigen, die sich zum orthodoxen Christentum rechnen, ist im Vergleich zum Jahr 2017 um neun Prozent zurückgegangen. „Dies ist nicht die Kirche, die Gemeindemitglieder verliert, sondern es verringert sich die Anzahl derjenigen, die sich kulturell mit dem orthodoxen Christentum und mit der orthodoxen Kirche identifizieren. Gegenwärtig verschwindet die Kirchenthematik allmählich aus dem Medienraum und aus dem öffentlichen Raum und transformiert sich in etwas Anderes, was es früher nicht gegeben hatte. Ausgehend von Felduntersuchungen ist jedoch zu sehen, dass die Anzahl der aktiven Gemeindemitglieder ansteigt. Aber in den Massenbefragungen wird sich dies lange nicht niederschlagen und möglicherweise auch niemals darstellen. Es gibt Angaben, wonach sich 60 bis 80 Prozent der Menschen als orthodoxe Christen bezeichnen. Die Anzahl der aktiven Gemeindemitglieder wird aber stets zwischen drei und fünf Prozent schwanken. Und während für irgendeine Gemeinde oder Diözese ein Zuwachs von 500 und gar 1000 Menschen eine gewaltige Bedeutung haben wird, bleibt dies im gesamtrussischen Maßstab im Rahmen der soziologischen Fehlerrate“, resümierte Lunkin.

Michail Smirnow, Leiter des Lehrstuhls für Philosophie an der Leningrader staatlichen A.-S.-Puschkin-Universität erinnerte im Gespräch mit der „NG“ daran, dass laut Gesetz „religiöse Vereinigungen keine Funktionen staatlicher Machtorgane, anderer Staatsorgane, staatlicher Einrichtungen und von örtlichen Selbstverwaltungsorganen wahrnehmen, nicht an der Tätigkeit politischer Parteien und politischer Bewegungen teilnehmen sowie ihnen keine materielle und andere Hilfe leisten“. Außerdem ist gemäß den „Grundlagen der sozialen Konzeption der Russischen orthodoxen Kirche“ „eine Teilnahme der Kirchenhierarchie und Geistlichen und folglich der gesamten Kirche am Wirken politischer Organisationen und an Wahlkampfprozessen nicht möglich“. „Es muss angenommen werden, dass für Patriarch Kirill diese Norm kein Pflichtsatz von Wörtern ist“, sagte Smirnow.

Dementsprechend könne man über den politischen Einfluss eines religiösen Vertreters nur mit großen Vorbehalten urteilen. „Es ist offensichtlich, dass der politische Einfluss von Patriarch Kirill nicht groß ist, wenn man überhaupt über so etwas sprechen kann“, meint der Soziologe. „Im System der russischen Politik ist sowohl ihm selbst als auch der administrativen Verwaltungsstruktur, die er leitet, die traditionelle Rolle eines Instruments der Staatsmacht eingeräumt worden. Keinerlei Kontakte mit der höchsten Führung der Russischen Föderation sind ein Beleg für den politischen Einfluss der religiösen Vertreter. Zweifellos gibt es irgendein Rechnen mit der Möglichkeit einer Beeinflussung eines Teils der Gesellschaft durch die Kirche seitens der weltlichen Offiziellen (der Administration des Präsidenten der Russischen Föderation u. a.). Dies bedeutet aber keine politische Selbständigkeit der Russischen orthodoxen Kirche und anderer religiöser Organisationen. In Russland haben die höchsten Offiziellen nie solch eine Selbständigkeit zugelassen. Und die heutigen sind da keine Ausnahme“.

„Was aber die Popularität unter der Bevölkerung angeht, so ist dies bereits eine andere Situation“, fügte Smirnow hinzu. Der Grad dieser Popularität hängt direkt mit dem Ansehen des religiösen Führers zusammen, das sich aus seinen Handlungen sowie den Umständen des Lebens und des Dienens (für Gott und die Kirche) ergibt. Ich nehme an, dass es vorerst verfrüht ist, über einen drastischen Rückgang der Popularität von Patriarch Kirill unter den Anhängern des russischen orthodoxen Christentums zu sprechen. Tatsächlich haben eine Reihe von Ereignissen in der Zeit seiner Patriarchen-Amtszeit einen diskreditierenden Charakter getragen. Aber für das religiöse Bewusstsein ist eine radikale Revision sakraler Bilder und Figuren nicht typisch, selbst wenn sie durch irgendetwas devalviert werden. Bei den Teilen der Gesellschaft, die einer anderen Religion angehören oder nichtreligiös sind, bleibt das Ansehen von Patriarch Kirill ebenfalls in den Grenzen oberhalb eines kritischen Niveaus. Er ist ein kluger und erfahrener Mann, der es versteht, sich darzustellen, und nicht selten durchaus vernünftige Überlegungen und Urteile äußert, die sich mit der Meinung einer erheblichen Masse der Bevölkerung decken. Die innerkonfessionelle Opposition zum Patriarchen, die real existiert, verfügt über keine besondere Autorität. Und sie ist der Mehrheit der außerhalb der Russischen orthodoxen Kirche stehenden Menschen auch einfach unbekannt. Die Geschichten mit Kurajew und Romanow (Andrej Kurajew ist in diesen Tagen entsprechend einer Entscheidung des Patriarchen exkommuniziert worden, da er ethische Normen der Kirche verletzt habe; Schema-Mönch Sergius Romanow, der sich gegen die COVID-19-Einschränkungen im Ural wehrte und damit auch die Kirche als solche diskreditierte und gegenwärtig in einer Moskauer U-Haftanstalt auf seinen Prozess wartet – Anmerkung der Redaktion) haben kein großes Echo ausgelöst, besonders vor dem Hintergrund der wahren Probleme im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Übrigens, die Position von Patriarch Kirill im Zusammenhang mit den Maßnahmen zur Verhinderung einer Verbreitung des Virus ist bei der Bevölkerungsmehrheit auf Verständnis gestoßen“.

„Als die schwierigsten hinsichtlich der Konsequenzen sehen die Versuche des Patriarchen aus, eine religiöse Präsenz in den weltlichen Staat und die Gesellschaft zu inkorporieren, die über den Rahmen hinausgeht, der durch die geltende Gesetzgebung festgelegt worden ist (sagen wir einmal die „Theologisierung“ im Bereich der weltlichen Bildung oder der forcierte Bau von Kirchen entgegen den Interessen der Einwohner). Dies zieht wirklich Ansehensverluste nach sich. Und der künftige Patriarch muss irgendetwas damit tun. Der gegenwärtige Patriarch aber hat allem Anschein nach bereits eine altersbedingte Müdigkeit akkumuliert, sein Maximum erreicht und tendiert zu einem ruhigen Lebensabend in dem schwer erkämpften Status“, resümierte Michail Smirnow.

  1. S. Derweil halten die Kritiker von Patriarch Kirill an ihrer Meinung fest, wonach sich das Kirchenoberhaupt offen in den Dienst des Kremls gestellt hat. Dies mag möglicherweise auch der folgende Beitrag der Redaktion der „NG“-Beilage „NG-Religionen“ belegen.

In den Worten von Patriarch Kirill hat man eine Verurteilung Nawalnys ausgemacht

Patriarch Kirill hat am 4. April eine Predigt gehalten, in der man eine Anspielung auf die Unglücke des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny im Straflager vernommen hat. Natürlich, das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche nennt nicht den Namen von Nawalny. Er erteilt allen Gläubigen sozusagen eine moralische Lehre.

„Unter den Leiden, die einen Menschen ereilen, sind eine Verurteilung, eine Verhaftung, ein Gefängnis, schwere Arbeiten. Dies sind der Mittelpunkt und eine maximale Form menschlichen Unglücks, besonders in Verbindung mit Krankheiten, innerer Trauer und Kummer“, erklärte der Patriarch. „Aber diese Trübsale suchen den Menschen schließlich nicht aufgrund des guten Lebens heim, sondern im Ergebnis des Begehens eines Verbrechens, eines Verstoßes gegen das Gesetz und die Rechtsordnung. Und damit der Mensch Buße tut, damit von ihm jegliche Anschuldigung genommen wird, macht er auch die Bestrafung durch. Denn eine Verhaftung, eine Gefängnisstrafe – dies ist auch eine Bestrafung für die begangene Straftat“.

Auf den ersten Blick scheint es, dass Kirill eine banale Wahrheit aus den Romanen Dostojewskijs verteidigt. Jedoch macht es Sinn, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass die Predigt der Geschichte aus den Evangelien gewidmet war, die mit den Leiden Christi zusammenhängt. Der Erlöser war an das Kreuz gekommen, um für die Sünden der Menschheit zu sühnen, erinnerte der Patriarch. Somit erlangen also seine Worte einen überraschenden geheimen Sinn.

Es sei daran erinnert: Als Nawalny nach Russland zurückkehrte, obgleich er gewusst hatte, dass man ihn festnehmen wird, haben sich jene gefunden, die ihn mit Christus verglichen. Jesus war in Jerusalem eingezogen, obwohl er seine Hinrichtung erahnt hatte. Der Erlöser hatte auch nicht zugestimmt, den Schutz seiner Anhänger in Anspruch zu nehmen, als römische Soldaten in den Garten Getsemani gekommen waren, um ihn festzunehmen.