Der analytische Übersichtsbericht „Das technologische Potenzial Russlands: Ist es weit bis zur Führungsrolle?“ des Instituts für statistischen Untersuchungen und Ökonomie des Wissens der Nationalen Forschungsuniversität „Hochschule für Wirtschaftswissenschaften“ für Juni ist in zurückhaltend-pessimistischen Tönen gehalten. Das Resümee ist solch eines: „…Im letzten Jahrzehnt hat das Tempo der technologischen Erneuerung in Russland spürbar nachgelassen. Die Anzahl der Patentanträge für Erfindungen, die durch einheimische Antragsteller im Land und im Ausland eingereicht wurden, hat sich in den Jahren von 2010 bis 2019 um zehn Prozent vor dem Hintergrund der Zunahme der Patentaktivitäten in fast allen führenden Ländern (außer Japan) verringert. Im Ergebnis solch einer Diskrepanz zu den globalen Trends verkleinerte sich der Anteil Russlands am gesamten weltweiten Strom von Patentanträgen von 1,6 bis auf 0,9 Prozent. Und hinsichtlich seiner Größe rutschte das Land vom 10. auf den 12. Platz ab, wobei Italien und Indien der Vortritt gelassen wurde“.
Umso paradoxer müssten vor diesem Hintergrund scheinbar die Ergebnisse der gerade veröffentlichten Untersuchung „Ausländische Technologien für China. Eine Wunschliste“ („China’s Foreign Technology. Wish List“. May 2021) aussehen, die im Zentrum für Sicherheit und neue Technologien (Center for Security and Emerging Technology – CSET), das an der School of Foreign Service der Georgetown University (USA) angesiedelt ist, vorgenommen wurde. Nach einer Analyse der Arbeit von über 140 chinesischen Diplomaten für Wissenschaft und Technologien (S & T diplomats) im 5-Jahreszeitraum 2015-2020 in 52 Ländern sind die amerikanischen Experten zu dem Schluss gelangt, dass zum wichtigsten Geberland hinsichtlich neuer Technologien für das Reich der Mitte Russland geworden ist. 112 technologische Vorhaben mit den chinesischen Genossen. Eines der Kapitel des CSET-Reports heißt auch so: „Russland als technologischer Brotkorb“ („Russia as a Technological Breadbasket“). Die USA sind auf dem zweiten Platz – mit 77 Vorhaben, Großbritannien schließt die Führungstroika mit 62 Projekten ab. Nicht weit zurück liegt Japan – 57 gemeinsame wissenschaftlich-technologische Projekte realisiert das Land der aufgehenden Sonne mit den Chinesen.
Interessant ist natürlich das Funktional der chinesischen S & T diplomats. Zu ihrer Pflicht gehört die Beobachtung der Entwicklung globaler Trends in der Wissenschaft und den Technologien. Dabei erfolgt eine ständige Suche nach der Möglichkeit für chinesische Firmen, internationale Ressourcen zu nutzen und die Kanäle für eine internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technologien zu erweitern. Das heißt: Die S & T diplomats müssen die Menschen, Produkte, Technologien und Unternehmen in anderen Ländern identifizieren, in die es für die chinesischen Firmen Sinn macht zu investieren.
Einerseits könnte man sich für Russland nur freuen. Man hat die USA zumindest hinsichtlich dieses Parameters der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung überholt. Das ist keine kleine Heldentat. Und dies bedeutet wieder auch, dass es bei uns etwas zu „holen“ gibt. Allerdings, wenn man genau sein will, so ist dies kein Technologie-Klau in Reinform. Ein großer Teil der Projekte wird in Form einer Partnerschaft realisiert (der Transfer von Technologien erfolgt nur an zweiter Stelle). Wie die Forscher aus dem CSET betonen, investieren die Chinesen oft in für sie interessante Unternehmen oder erwerben Anteile an ihnen und erhalten so einen Zugang zu Technologien und Wissen in der ganzen Welt – von Lateinamerika bis nach Australien.
Außerdem sind an und für sich die Angaben über die Thematik solch einer wissenschaftlich-technologischen Partnerschaft ein informativer Szientometrie-Parameter. Und im Übrigen ein sogar erheblich adäquaterer als – sagen wir einmal – der bibliometrische Hirsch-Index oder Impact-Faktor. In was man investieren sollte, wo die Russische Föderation noch die Führungsrolle bewahrt – alles liegt vollkommen offen auf der Hand. So nehmen heute drei Bereiche mehr als die Hälfte des Monitoring-Sektors der Chinesen ein – die Biopharmazie und medizinische Ausrüstungen (25,2 Prozent), Informationstechnologien (17 Prozent) und neue Materialien (11,5 Prozent).
Und noch eine interessante Nuance, die die CSET-Autoren hervorheben: „Von den 112 russischen wissenschaftlich-technologischen Projekten, die mit der Volksrepublik China realisiert worden sind, waren mehr als ein Drittel – 40 Prozent – mit Forschern, die in der Russischen Akademie der Wissenschaften arbeiten, in erster Linie in den Instituten der Fernost-Abteilung der Russischen AdW“. Die Experten des Moskauer Carnegie-Zentrums Leonid Kowatschitsch und Andrej Kolesnikow unterstreichen nicht zufällig, dass im letzten Jahr mindestens gegen zwei Bürger Russlands Anklage wegen Staatsverrat und Spionage aufgrund von Fällen, die mit China verbunden waren, erhoben wurde. „Die Preisgabe von Informationen über derartige Prozesse zeugt von einer Verstärkung der Wachsamkeit gegenüber den chinesischen Strukturen“, meinen die Experten.
Vor einem chinesischen technologischen „Abgrasen“ versucht man sich nicht nur in den USA oder in Europa zu schützen. Japans Regierung verkündete die Absicht, die Normen für eine Zulassung und den Aufenthalt ausländischer Studenten und Forschungspraktikanten in den japanischen Universitäten und anderen (ähnlichen) Einrichtungen zu verschärfen. Über diese Kategorie von Personen könne, wie die japanische Regierung meint, eine illegale und unkontrollierbare Ausfuhr von Militärtechnologien aus Japan vorgenommen werden. Gemeint ist eine Ausfuhr nach China. In Vielem sind analoge Maßnahmen auch in den USA auf Initiative von Präsident Donald Trump ergriffen worden.
Von daher wird übrigens klar, warum die Chinesen ein so verstärktes Interesse für unseren technologischen „Brotkorb“ haben. Schließlich kauft Russland weiter – entgegen der verbreiteten Meinung – westliche Software und Anlagen ein – von Cisco, Dell, HP, Nvidia, Intel, Halliburton oder Schlumberger. Und China hinkt gerade bei der Entwicklung und Schaffung von System zur Datenverarbeitung und -speicherung, von Server-Anlagen, Algorithmen und Software für Supercomputer hinterher. Die Forschungsabteilung des chinesischen Konzerns Huawei hängt beispielsweise stark von US-amerikanischer Software und den Kapazitäten ausländischer Auftragnehmer hinsichtlich der Chip-Fertigung ab. Russland ist somit ein bequemer Punkt für China, um an diese Technologien zu kommen. Und diesen Umstand muss man ebenfalls ins Kalkül ziehen.
Im Großen und Ganzen ist die chinesische wissenschaftlich-technologische „Neugier“ ein globales und Kopfschmerzen auslösendes Problem. Eine effektive Tablette (und umso mehr ein Vakzin) ist dagegen bisher nicht entwickelt worden. Doch eine vernünftige Prophylaxe hat noch nie geschadet.