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Warum wir uns hinsichtlich des Westens geirrt haben


Der russische Politologe Dmitrij Jewstafjew hat sich am 6. September in der Talkshow „Ein Abend mit Wladimir Solowjow“ des russischen Staatsfernsehens „Rossija-1“ an Kollegen-Politologen mit dem Appell gewandt, zu begreifen, was für einen Fehler wir bei der Analyse der Länder des Westens begingen. Die Initiative von Dmitrij Jewstafjew kann man als den Beginn einer ernsthaften Diskussion über das Neudurchdenken der einheimischen Wissenschaft über die internationalen Beziehungen begrüßen. Schließlich ruft er uns auf, zu begreifen, warum viele einheimische Experten (und Möchtegern-Experten – Anmerkung der Redaktion) bis in die jüngste Vergangenheit daran geglaubt hatten, dass es Russland gelingen werde, konstruktive Beziehungen mit dem Westen ungeachtet der offen feindseligen Handlungen von Washington und Brüssel zu gestalten.

Ich nehme an, dass es einen Fehler der russischen Experten als solchen nicht gegeben hat. Unter den einheimischen Politologen gibt es viele hochklassige Profis, Kenner sowohl einzelner Länder des Westens als auch des Westens als einheitliches bzw. geschlossenes System USA-NATO-EU an sich. Die Fehler waren in der Breschnew-UdSSR der 1960er Jahre gelegt worden und trugen einen Systemcharakter.

Der erste Fehler ist das Nichtbegreifen, dass die einheimischen und westlichen Experten eine unterschiedliche Sicht auf das Wesen der internationalen Beziehungen haben. Die in der UdSSR dominierende marxistische Ideologie legte das Schwergewicht auf die Probleme des Klassenkampfs und der Klassensolidarität. Das Proletariat unterschiedlicher Länder spürt eine Gemeinsamkeit seiner Interessen. Und die Bourgeoisie – die der ihrigen. Von daher ergab sich im Übrigen der naive Glaube zuerst daran, dass das Proletariat der westlichen Länder bereit sein werde, die UdSSR zu unterstützen, und später – dass man mit dem Übergang Russlands zum Kapitalismus es in die „westliche Gemeinschaft“ aufnehmen werde. Die anglo-amerikanischen Schulen hatten aber immer die internationalen Beziehungen als einen Kampf nationaler Staaten angesehen. Die Frage besteht in seiner Form und seinen Methoden in Abhängigkeit von der Epoche.

Der zweite Fehler ist das Übertragen unserer normativen Wahrnehmung der Welt auf die Weltanschauung der westlichen (vor allem der angelsächsischen) Eliten. Das Denken der Experten-Gemeinschaft in der UdSSR war durch die moralischen und Wertekategorien „progressiv – reaktionär“, „gerecht – ungerecht“, „Recht – Aggression“ usw. übersättigt. Für die angelsächsischen Eliten aber, die in den Kategorien eines politischen Realismus erzogen worden waren, war dieses sowjetische Moralistentum ein merkwürdiges. Gerechtfertigt ist das, was uns Nutzen bringt. Und das, was ihn nicht bringt, muss liquidiert oder für uns zum Nutzen neuprogrammiert werden. Für sie war die liberale Rhetorik sowohl eine Form, um Zugang zu Ressourcen zu erhalten, als auch eine Ausgestaltung ihrer Macht.

Der dritte Fehler ist die Bewertung der Rolle des Zweiten Weltkriegs. Die sowjetische Gesellschaft hatte sich davon überzeugt, dass sich solch ein Krieg nicht mehr wiederholen darf, was durch den Schock aufgrund der gewaltigen Verluste ausgelöst worden war. Im Westen hatte es jedoch keinerlei Tragik hinsichtlich des Zweiten Weltkriegs gegeben: Die Amerikaner, Engländer und Franzosen hielten ihn „einfach für einen Krieg“ – nicht für den ersten und nicht für den letzten in der Geschichte. Dort hatte man kühl angenommen, dass die Gesetze des Kampfes um eine Hegemonie und ein Kräftegleichgewicht auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter gelten werden.

Die US-amerikanischen und britischen Experten für internationale Beziehungen haben die Kernwaffen nicht als eine Garantie für einen „ewigen Frieden“ angesehen. Die Theorien von einem „nuklearen Winter“ und einer „gegenseitig garantierten Vernichtung“ hat man in den USA stets nur als Hypothesen angesehen, die niemals eine Erprobung erleben werden. Die Amerikaner haben nach dem britischen Historiker Alan John Percivale Taylor daran erinnert, dass die Welt auch ohne Kernwaffen zwei lange Perioden eines „langen Friedens“ gekannt hatte. Von den Napoleonischen Kriegen bis zum Krim-Krieg hatte es in Europa keine Kriege zwischen den Großmächten gegeben, genauso wie es sie nicht zwischen dem Französisch-preußischen und dem Ersten Weltkrieg gegeben hatte. Im ersten Fall dauerte der „lange Frieden“ 38 Jahre an, im zweiten – 44 Jahre. Zeiträume, die durchaus mit dem Kalten Krieg vergleichbar sind. Im Westen hat man hunderte Szenarios für neue Kriege ausgearbeitet – von einem „begrenzten nuklearen“ bis zu einem „nichtnuklearen oder von einem mittleren Intensitätsgrad“ als Szenarien für eine Beendigung des „langen Friedens“.

Der vierte Fehler ist der Glaube, dass unsere Jalta-Ordnung die letzte Ordnung in der Geschichte der Menschheit sei. Die sowjetische Elite hatte ernsthaft daran geglaubt, dass die Welt der UNO und des Nachkriegsrechts beinahe eine Welt für immer sei und man strikt entsprechend Regeln spielen müsse. Von daher wurde auch der sattsam bekannte Begriff „verantwortungsvolle Politik“ aus der Taufe gehoben, wenn man unter solch einer die Nichtzulassung eines Zusammenbruchs der Jalta-Ordnung versteht. Im Westen (vor allem in den USA und in Großbritannien) hatte man unsere Weltordnung als eine zeitweilige Kombination aufgefasst, sozusagen als eine Heilige Allianz in der Wiener Ordnung. Während die sowjetische (und nach ihr auch die russische) Führung darüber nachdachte, wie man sie festigen kann, stellte man im Westen darüber Überlegungen an, wie man sie zum eigenen Nutzen revidieren kann.

Der fünfte Fehler ist der Glaube an die Allmacht der Wirtschaftsinteressen. Die These vom Dominieren der Wirtschaft über der Politik war für den Marxismus charakteristisch und war später in den westlichen Theorien der liberalen Globalisierung bestätigt worden. Dabei wurden die historischen Erfahrungen vergessen, dass die globale gegenseitige Abhängigkeit im 19. Jahrhundert beinahe die gegenwärtige übertroffen hatte. Dies alles ist aber innerhalb weniger Tage im Sommer des Jahres 1914 zerstört worden. Analog hatte die gegenseitige Abhängigkeit des britischen und deutschen Business in keiner Weise den Beginn des Zweiten Weltkrieges verhindert. Nunmehr hat der Westen etwas die eigenen Theorien von der Globalisierung „vergessen“, indem er zugestimmt hat, den russischen Markt aufgrund strategischer Interessen zu verlieren. Für die russischen Experten, die die Agitation für eine „liberale Globalisierung“ beinahe als ein Gesetz der Geschichte anerkannt hatten, wurde dies zu einem Schlag gegen die Weltanschauung.

In den 1840ern hatte der russische Poet und Diplomat Fjodor Tjutschew davor gewarnt, dass die europäischen Mächte die Heilige Allianz für die Vorbereitung eines Herauswerfens Russlands aus Europa nutzen würden. Die Entspannung der 1970er Jahre und die Projekte für ein „gesamteuropäisches Haus“ hat der Westen für analoge Ziele ausgenutzt, als eine Vorbereitung für ein Zurückwerfen der UdSSR und Russlands. Dafür hatte man in Russland lange und irrtümlich geglaubt, dass die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg in eine gewisse neue Qualität übergegangen sei und die künftige Zivilisation zu einer friedliebenderen werde.