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Was der deutsche Kanzler am 8. Mai zu sagen vergessen hat


Bundeskanzler Olaf Scholz wandte sich am 8. Mai aus Anlass des 77. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa an die deutschen Bürger. Dieses Datum wird in Deutschland als Tag der Befreiung begangen. Für den Kanzler sei dies, konstatierte die „Berliner Zeitung“, die dritte Fernsehansprache in den wenigen Monaten seiner Amtszeit und die zweite, die dem Konflikt in der Ukraine galt, gewesen. Das Blatt lenkte das Augenmerk darauf, dass die Ansprache erst kurz vorher angekündigt worden war. Interpretieren kann man diese Tatsache auf unterschiedliche Art und Weise. Möglicherweise sei dies keine routinehafte Eile gewesen, wie Christine Dankbar, die Autorin des Beitrages, vermutete, sondern ein Suchen nach wichtigen Worten, die der Kanzler den Bürgerinnen und Bürgern vermitteln wollte.

Das Wichtigste, was die Journalisten bewegte, die die Rede von Scholz analysierten, war, dass er sich nicht angeschickt hätte, Neues kundzutun. Da sich der Kanzler nun einmal an solch einem Tage an die Bürger wende, wie die Zeitung schrieb, hätte er Etwas sagen können, was sich von ein und denselben Worten unterscheide, die den Sinn des Geschehens „mehr verschleiern als erläutern“. Scholz, betonte die Politikwissenschaftlerin und stellvertretende Ressortleiterin Dankbar, habe wieder einmal erklärt, „wer schuld an dem Krieg (in der Ukraine – „NG“) ist und wie perfide es von Putin ist, den Überfall auf die Ukraine als Kampf gegen Nazis zu deklarieren“. Und er hätte sich wiederholt, „dass Putin nicht gewinnen und die Ukraine überleben werde“ .

Dennoch haben sich beim Bundeskanzler wichtige Worte gefunden, die die Autorin der „Berliner Zeitung“ nicht bemerkte oder nicht bemerken wollte. Für sie war allem nach zu urteilen wichtig gewesen, Scholz zu veranlassen, nach Kiew zu reisen, oder ihn zu nötigen, Lieferungen schwerer Offensivwaffen in die Ukraine zu organisieren. Es muss gesagt werden, dass solch ein „Mainstream der Wünsche“ für die überwiegende Mehrheit der deutschen Presse charakteristisch ist.

Aufmerksamkeit erregen jedoch zwei Tatsachen. Die erste: Der Bundeskanzler hat irgendwelche eigenständige Handlungen Deutschlands unter Umgehung der Partner ausgeschlossen. Und die zweite – seine Befürchtungen hinsichtlich einer Ausweitung des Konflikts. Nicht umsonst unterstrich Olaf Scholz, dass die NATO nicht in die Kampfhandlungen hineingezogen werden dürfe. Und in der Tat, wobei Christine Dankbar zugestimmt werden muss: Viele Menschen in Deutschland haben Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Und dieses Mal hatte der Kanzler ein Gespür für die Stimmungen der deutschen Öffentlichkeit.

Scholz hatte jedoch mit Schweigen sowohl die Gründe als auch die eigene Rolle in den gegenwärtigen Geschehnissen in Europa übergangen. In seiner Ansprache vom 9. Mai auf dem Roten Platz hatte dagegen der russische Präsident Wladimir Putin die Aufmerksamkeit darauf konzentriert. Er erinnerte an die mehrfachen Versuche Russlands, „ein System einer gleichen und unteilbaren Sicherheit“ nach dem Zusammenbruch der UdSSR zu schaffen. In diesem Zusammenhang ist es nicht Fehl am Platz an den Entwurf für einen Vertrag über die europäische Sicherheit zu erinnern, mit dem am 5. Juni 2008 der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew – gerade im Vorfeld des Konfliktes in Südossetien, der zu einem 5-Tage-Krieg ausuferte – aufgetreten war. Diese Vorschläge hätten diesen zweiten Krieg verhindern können (der erste hing mit dem Einmarsch der NATO in Jugoslawien 1999 zusammen). Aber der Westen zog es vor, Russlands Initiativen nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Putin betonte in seiner Rede, dass „wir im Dezember vergangenen Jahres vorgeschlagen hatten, einen Vertrag über Sicherheitsgarantien abzuschließen. Russland hatte den Westen zu einem ehrlichen Dialog aufgerufen, zur Suche nach vernünftigen, nach Kompromisslösungen, zu einer gegenseitigen Berücksichtigung der Interessen“. Aber die NATO-Länder wollten Moskau kein Gehör schenken. Von daher zog der Präsident die Schlussfolgerung, „dass sie tatsächlich völlig andere Pläne gehabt hatten“. Und er erzählte, wie nach seiner Meinung die ukrainische Seite und die sie unterstützenden NATO-Länder gehandelt hätten.

Hätte Kanzler Scholz die Zunahme der Spannungen rund um die Ukraine verhindern können? Sicherlich ja, als eine Seite, die die Minsker Abkommen unterzeichnete, die bei Vorhandensein eines guten Willens die sogenannte militärische Sonderoperation der Russischen Föderation hätten verhindern können.

Schließlich mag man es in den deutschen politischen Kreisen nicht, sich an einen Beitrag im US-amerikanischen „The Wall Street Journal“, laut dem Berlin versucht habe, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu verhindern, indem Präsident Wladimir Selenskij vorgeschlagen wurde, auf die Pläne für einen NATO-Beitritt der Ukraine zu verzichten. Dies sei am Rande der Internationalen Münchener Sicherheitskonferenz gewesen. Ein Verzicht auf einen Beitritt zur NATO und eine Neutralitätserklärung hätten zum Teil eines umfangreicheren Deals zwischen dem Westen und Russland werden können – gerade in dem Geist, über den Putin am 9. Mai sprach. Die Ukraine hatte es aber vorgezogen, ein Pulverlager an den russischen Grenzen zu bleiben. Und Scholz unterwarf sich den generellen Stimmungen der NATO-Länder und des Anstifters von der anderen Seite des Atlantiks hinsichtlich dieser ganzen Geschichte. Anders gesagt: Anstatt Alarm zu schlagen und sein politisches Profil zu demonstrieren, welches Deutschland nach dem Verlassen der internationalen Arena durch Angela Merkel so sehr fehlt, hat er es vorgezogen, sich in Schweigen zu hüllen.

Jetzt bekommt Olaf Scholz den Lohn für sein Mitläufertum in Gestalt eines Einbruchs der Popularitätsratings im Land und eines Verlusts der Führungsrolle in der EU. Die Geschichte wird ihm dies nicht vergeben, wenn die Situation in Europa zu einem globalen nuklearen Konflikt ausartet.

Leider sieht die deutsche Presse heute all diese Nuancen nicht und treibt damit gewollt oder ungewollt Europa zu einer Katastrophe.