Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Was die weißrussischen Proteste Russland lehren


Die weißrussischen Oppositionsaktionen haben derzeit spürbar den innerrussischen Protest auf der informationsseitigen Tagesordnung verdrängt. Dies ist erklärbar: Das wichtigste innenpolitische Ereignis der letzten Wochen – die Protestmärsche und -meetings in Chabarowsk – beginnt schwächer zu werden und sieht vor dem Hintergrund der eindrucksvollen Aktionen im Nachbarstaat immer blasser aus. Und die ökologische Auseinandersetzung in Baschkirien um das Antasten des Berges Kuschtau durch einheimische Wirtschaftsvertreter, der man den Status eines „neuen Schijes“ prophezeite, hat noch kein massenhaftes Interesse gefunden. Sie haben ebenfalls die Unruhen in der Unionsrepublik in den Schatten gestellt. Das erhöhte Interesse für die Probleme der Nachbarn und nicht für die eigenen – dies ist nicht sehr gut. Lehren aber vielleicht die weißrussischen Aktionen den Bürgern Russlands etwas?

In der Regel ist der Wunsch, das inländische gesellschaftspolitische Leben „gefrieren“ zu lassen, eine Reaktion der Offiziellen auf die Versuche von „bunten Revolutionen“ in den Nachbarländern. Die Suche nach äußeren Feinden und das Appellieren an veralteten Losungen in Verbindung mit der Missachtung der aufrichtigen Motive der Menschen, die Verschärfung der Kontrolle der Kommunikationsfreiheit und der Freiheit des Artikulierens von Meinungen sowie das betonte Setzen auf eine gewaltsame Unterdrückung sind das typische Arsenal solch einer Reaktion.

Sicherlich wird es Versuche geben, es auch jetzt zum Einsatz zu bringen, unter dem Einfluss der weißrussischen Ereignisse. Es gibt nicht wenige Menschen an der Macht, die zu diesen Methoden neigen. Wenn man sich mit den jüngsten Arbeiten des Sekretärs des russischen Sicherheitsrates oder der speziellen Senatskommission zum Schutz der Souveränität vertraut macht, die den Versuchen einer ausländischen Beeinflussung innerer russischer Prozesse gewidmet sind, kann der Eindruck entstehen, dass es ohne die in keiner Weise geht. Die mehrdeutigen Andeutungen einiger Experten, wonach die Proteste in Chabarowsk und Minsk durch ein und dieselben Leute organisiert worden seien, bestätigen dies.

Doch je weiter, desto mehr werden auch die Schwachstellen solch einer Linie offensichtlich. Die Menschen, die bereit sind, auf die Straße zu gehen, um ihre Position zu verteidigen (möglicherweise eine fehlerhafte, aber eine eigene), reizen nur die Botschaften, die von oben übertragen werden. Sie sind der Meinung, dass sie sich selbst zurechtfinden werden. Und nicht schlechter. Und solche Menschen werden immer mehr, wobei sie vor einer Politisierung ihrer Forderungen und sogar vor einem Schaden für ihre Wirtschaftsinteressen keine Angst haben. Diese passionarische Schicht ist unerwartet selbst unter jenen entstanden, die als eine unerschütterliche soziale Grundlage für das Regime von Alexander Lukaschenko galten – unter den Arbeitnehmern der Staatsunternehmen, die wirtschaftlich von den Herrschenden abhängig sind. Die unverständlich von woher aufgekommene Pingeligkeit der Proletarier in Bezug auf eine Ehrlichkeit des Wahlprozesses hat auf einmal ihre materiellen Interessen überwogen.

Der Einsatz von Gewalt kann, wie die Praxis zeigte, zu einer Demonstration moralischer Überlegenheit der Unterdrückten führen. Zumal es schwierig ist, sie in einem gewissen, angenommen vernünftigen Rahmen zu dosieren. Die weißrussischen Erfahrungen belegen dies. Und Brutalität bringt mitunter keine Angst hervor, sondern – im Gegenteil – eine Eskalation der Konfrontation, und verursacht, dass die Schwankenden zu den Protestierenden tendieren. Wenn es nicht die Bilder von den Verprügelungen in den ersten Tagen der weißrussischen Proteste gegeben hätte, wäre es den dortigen Nichteinverstandenen wohl kaum gelungen, eine Kundgebung mit mehr als 100.000 Teilnehmern im Stadtzentrum von Minsk zu veranstalten.       

Die Offiziellen haben aber eine Alternative zum Standard-Verhaltensmodell: Wenn dies keine Zugeständnisse sind, so zumindest aber das Demonstrieren eines wohlwollenden Verstehens. Das, was früher als Schwäche angesehen wurde, wird zu einem Plus. Kaum dass die Herrschenden in Minsk das Weiterdrehen der Gewaltspirale gestoppt hatten (jedoch, wahrscheinlich vorübergehend), fingen die Proteste an, ohne Kraftstoff zu bleiben.

Ein Begreifen dessen ist auch in den Handlungen der Herrschenden in Russland auszumachen. Das Oberhaupt von Baschkirien hat wenige Tage nach dem gewaltsamen Auseinandertreiben des Zeltlagers auf dem Kuschtau vom Wesen die Fehlerhaftigkeit dieser Aktionen und den taktischen Sieg der Protestierenden anerkannt. Die Situation in Chabarowsk, wo auf regelmäßiger Basis und ohne ein Eingreifen der Vertreter der Rechtsschutzorgane schwächer werdende nichtsanktionierte Aktionen stattfinden, ist bereits in gewohnte Bahnen zurückgekehrt. Wird es möglicherweise, wenn es mehr an Beispielen für solch ein adäquates Verhalten gibt, tatsächlich besser für die politische Stabilität im Land sein?