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Was für einen Abschluss der „Sonderoperation“ erwarten die russischen Bürger


Das kremlnahe Allrussische Meinungsforschungszentrum (VTsIOM) hat Ergebnisse eine Umfrage veröffentlicht, die der von Moskau angestrebten Entnazifizierung der Ukraine und generell den Zielen der am 24. Februar begonnenen russischen Sonderoperation galt. Ihre Ergebnisse sind unter Berücksichtigung des informationsseitigen Kontextes der letzten zwei Monate schwerlich als überraschende anzusehen. 88 Prozent der Befragten sind der Auffassung, dass es in der Ukraine Organisationen gebe, die die „Ideologie des Nazismus“ predigen würden. 76 Prozent nehmen an, dass diese Organisationen eine Gefahr für Russland und die russischen Bürger darstellen würden. 70 Prozent sind sich gewiss, dass sie eine Unterstützung von den ukrainischen Offiziellen erhalten würden.

Die VTsIOM-Soziologen weisen gleichfalls die fünf populärsten Antworten auf die Frage nach den Zielen der international umstrittenen Sonderoperation der Russischen Föderation aus (jeder Befragte konnte maximal fünf geben). 45 Prozent sagten, dass zu solch einem Ziel „ein Prozess gegen die ukrainischen Nazis aufgrund der verübten Verbrechen“ werden müsse. 39 Prozent nannten einen Verzicht der Ukraine auf einen Beitritt zur NATO und einen neutralen Status, 34 Prozent – die Anerkennung der Unabhängigkeit der Donezker Volksrepublik und der Lugansker Volksrepublik durch Kiew, 32 Prozent – die Festschreibung des kernwaffenfreien Status der Ukraine sowie 32 Prozent – die Einführung einer strafrechtlichen Haftung für das Propagieren des Nazismus in diesem Land.

Ab den ersten Tagen der Sonderoperation vermittelten die russischen Offiziellen der Gesellschaft auch eine von den Medien unterstützte Zusammenstellung bevorzugter oder ganz und gar obligatorischer Gedanken. Alternative Interpretationen erwiesen sich im besten Falle als unerwünschte, im schlimmsten – als widerrechtliche, wobei sie unter anderem auch unter die neuen Paragrafen des russischen Strafgesetzbuches fielen. Die Logik der Verhängung solch eines Sonderregimes war klar. Sein Zeitrahmen ist nach wie vor schwer zu bestimmen. Handlungen solcher Art haben neben einer direkten auch eine Nebenwirkung. Es entsteht eine Medien- und gedankliche Blase, in der sowohl die Gesellschaft als auch die Herrschenden existieren. Und in dieser Blase ist es bereits schwierig zu verstehen, ob eben jene Herrschenden auch neue Informationen erhalten, die sie selbst im Weiteren interpretieren, oder ob ihnen das mitgeteilt wird, was sie bereits selbst erklärten und als Antwort hören wollen. Dies betrifft sowohl die Programme der staatlichen Fernsehkanäle als auch die Meldungen der dem Kreml nahestehenden Internetseiten und die Umfragen der soziologischen Dienste.

In solch einem Umfeld ist es schwer zu begreifen, was gerade die Bürger Russlands unter einer Entnazifizierung der Ukraine verstehen und wie sie sich die nazistische Gefahr vorstellen. Dieses Thema erklang bereits in den ersten Tagen der Sonderoperation, die inzwischen den 58. Tag andauert. Entsprechend dem Vorankommen des Verhandlungsprozesses tauchten später in den Massenmedien Informationen auf (darüber sprachen häufiger die Ukrainer), dass von einer Entnazifizierung nicht mehr die Rede sei. Die russischen Herrschenden, darunter auch die offiziellen Verhandlungsführer, dementierten dies. Die Forderungen der Russischen Föderation würden nach ihren Worten weiterhin bestehen. In den öffentlichen Botschaften haben sich die Akzente verändert. Mal wurde beinahe das gesamte Kiewer Regime als neonazistisches erklärt, mal war von den sogenannten Nationalisten-Bataillonen die Rede, die entweder von Kiew kontrolliert oder nicht kontrolliert werden. Wie sich der normale bzw. gewöhnliche Bürger der Russischen Föderation, der Konsument der täglichen Informationen darin zurechtfinden soll, ist ein Rätsel.

Das VTsIOM befragt solche Bürger. Es ist schwer zu begreifen, was für Informationen sie erhalten und aus welchen Quellen und wie kritisch sie diese wahrnehmen. Sie vermitteln mit Hilfe der Soziologen letztlich den Herrschenden genau solch ein Bild der öffentlichen Meinung, das sie sehen wollen und das sie selbst auch der Gesellschaft angeboten haben. Da ein Feedback erhalten wurde, kann man darauf verweisen, wobei die eigenen Entscheidungen untermauert werden – beispielsweise über die Bedingungen für eine Beendigung der Sonderoperation und die Unterzeichnung eines Friedensvertrages. Kiew erklärt, dass die ukrainische Gesellschaft eine Anerkennung der DVR und der LVR nicht unterstütze? Nun ja, die russische ist auch nicht mit einem Friedensvertrag ohne einen Prozess gegen die Nazis und eine strafrechtliche Bestrafung für ein Propagieren dieser Ideologie einverstanden. So kann es vielleicht erklärt werden.

Man kann sich schwer vorstellen, wo „der Prozess gegen die Nazis“ erfolgen kann – in Moskau? In Kiew? In Den Haag? Bemerkenswert ist dabei dennoch, dass diese Variante die populärste unter den vom VTsIOM befragten Bürgern Russlands ist. Unter Berücksichtigung der Realitäten der gedanklichen Luftblase kann man annehmen, dass man der Gesellschaft für ein Testen reale Bestimmungen aus dem russischen Entwurf des Friedensvertrages unterbreitet. Inwieweit sie realisierbar sind, ist eine andere Frage.

 

  1. S. der Redaktion „NG Deutschland“

Am 58. Tag der russischen Operation in der Ukraine ließ der amtierende Befehlshaber der Truppen des Zentralen Militärbezirks Rustam Minnekajew die Öffentlichkeit des Landes in die Pläne der russischen Armee blicken. In Jekaterinburg erklärte er am Freitag, dass im Rahmen der in dieser Woche begonnenen zweiten Phase der Sonderoperation die komplette Kontrolle über den Donbass und den Süden der Ukraine erlangt werden soll. Damit soll ein Landkorridor zur Krim gewährleistet werden. Und besonders horchte man in Kischinjow auf, als der hochrangige Militär betonte, dass mit der Kontrolle über den Süden der Ukraine noch ein Zugang nach Transnistrien gesichert werde. Die russische Armee wird also die geografische Karte der Ukraine stark verändern (und eventuell das Land ohne einen Zugang zum Schwarzen und Asowschen Meer belassen), zumal in der Presse bereits Informationen auftauchten, denen zufolge mittels „Referenden“ neue moskauhörige „Volksrepubliken“ etabliert werden könnten.

Präsident Wladimir Putin kann sich derweil gewiss sein, dass sein eingeschlagener Kurs von der Bevölkerungsmehrheit unterstützt wird. Zumindest laut Angaben des kremlnahen Meinungsforschungszentrums VTsIOM. Dieses legte am Freitag neue Zahlen vor, laut denen 80,7 Prozent der Befragten erklärten, dass sie dem Staatsoberhaupt vertrauen würden (vor einer Woche waren es freilich 81,6 Prozent). Hinsichtlich der Billigung der Tätigkeit des Präsidenten gibt es auch einen Rückgang. In der vergangenen Woche waren es 79,6 Prozent, in dieser Woche – 78,4 Prozent.