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Was für Russland die Ereignisse in Weißrussland bedeuten


In Weißrussland hat man die stärksten Konkurrenten von Alexander Lukaschenko – Viktor Babariko und Valerij Zepkalo – nicht zu den Präsidentschaftswahlen zugelassen. Teilnehmer von Protestaktionen werden festgenommen, und die Offiziellen greifen in ihrer Agitation und Konteragitation mitunter zu einer antirussischen Rhetorik. 

Moskau reagiert nicht öffentlich darauf und mischt sich nicht ein. Es existiert die Theorie, dass den russischen Offiziellen das harte Regime Lukaschenkos gelegen sei, da es in den Augen des Westens das in der Russischen Föderation an sich Geschehende vorteilhaft überschatte. Der weißrussische Staatschef führt jedoch schon seit langem ein eigenes Spiel mit Europa und den USA. Und diese alte Annahme wird wohl kaum funktionieren. Es gibt auch eine andere Meinung: Lukaschenkos Methoden sind den Vertretern der bewaffneten Organe der russischen herrschenden Elite nahe und verständlich. Und sie billigen sie stillschweigend. Eine starke Macht müsse nach Meinung dieser Einflussgruppe gerade so aussehen. Und Russland könne Weißrussland nicht verlieren und es dem Westen und den neuen „orangefarbenen Revolutionären“ überlassen. 

Die Wirklichkeit kann sich als etwas komplizierterer erweisen. Der postsowjetische Raum ist für die russischen Herrschenden wichtig, da sie geopolitisch denken. In erster Linie denken sie jedoch daran, wie die Führung des Landes in ihren Händen bleiben kann, welche Methoden man nutzen kann und muss und welcher sich zu bedienen falsch ist. Jegliche einstige Republik der UdSSR, sei es Weißrussland, Georgien, Kirgisien oder Kasachstan, verwandelt sich in solch einem Kontext in ein Feld für Beobachtungen, eine Zone für ein Experiment.  

Es ist klar, dass es schwer ist, beispielsweise Turkmenistan und die Ukraine zu vergleichen. Doch das Gemeinsame für die ehemaligen Unionsrepubliken und Russland sind die Jahrzehnte des sowjetischen Experiments. Danach haben sie eine gleiche Anzahl von Jahren durchgemacht. Die Erfahrungen der UdSSR sind in der einen oder anderen Weise (wenn auch auf unterschiedliche Art) in die kollektiven Erinnerungen integriert worden. Die Wahrnehmung der Bürgerrechte und -freiheiten, die Spezifik der Haltung zur Macht – in all dem sind sowjetische Rudimente erhalten geblieben, irgendwo als mehr und anderswo als weniger spürbare. 

In den postsowjetischen Staaten wirken verschiedene politische Szenarios. Beispielsweise fegten sogenannte bunte Revolutionen durch Georgien, die Ukraine und Kirgisien. Dort wechseln regelmäßig die Herrschenden, und die neue Elite verfolgt in der Regel die alte auf strafrechtlichem Wege. Es gibt Beispiele für ein autoritäres Regime sowjetischen Typs (Weißrussland). Es gibt Staaten mit Elementen einer östlichen (asiatischen) Despotie. Moldawien ist ein Beispiel für den ständigen Kampf der prowestlichen Elite gegen die prorussische im Staat, wobei die Vollmachten des Präsidenten ernsthaft eingeschränkt sind.  

In Kasachstan wiederum hat man die Operation „Nachfolger“ durchgeführt. Für die russischen Herrschenden ist dieses Experiment möglicherweise eines der wichtigsten. Insbesondere weil der Nachfolger von Nursultan Nasarbajew regelmäßig politische Eigenständigkeit demonstriert, nicht im Schatten des Ex-Präsidenten bleiben möchte und sogar dessen Tochter den Posten des Senatsvorsitzenden weggenommen hat. 

Wie sich auch jetzt die Ereignisse in Weißrussland entwickeln mögen, für die russischen Offiziellen wird dies eine bedeutsame Information zum Nachdenken werden. Für sie ist es zum Beispiel wichtig zu verstehen, ob die gegenwärtige Protestwelle hinsichtlich des Maßstabs und der Folgen eine beispiellose ist. Letzten Endes hat dies alles – die Proteste, die Festnahmen und Gefängnisstrafen – in der weißrussischen Politik auch früher gegeben. Wenn die harten Maßnahmen und das Ausbooten der Hauptkontrahenten aus dem Wahlprozess Lukaschenko erlauben, im Präsidentensessel zu bleiben und sich durchaus sicher zu fühlen, so wird die Gruppe der Vertreter aus den bewaffneten Organen in der russischen herrschenden Elite punkten. Und ihre Argumentation wird in den Gesprächen mit dem ersten Mann im Staate überzeugender: Batka („Väterchen“, in den 1990er Jahren aufgekommener Spitzname Lukaschenkos – Anmerkung der Redaktion) hat sich nicht wie Janukowitsch verhalten und den Druck bis zum Ende ausgeübt. Und alles ruhig, ohne irgendwelche Revolutionen.

Wenn aber die harten Maßnahmen des weißrussischen Staatschefs den Protest nicht stoppen, wenn sich die Konfrontation der Bürger und der Herrschenden aus einer episodischen und vom Wahlkampf bestimmten in eine ständige und spürbare verwandelt, kann sich eine andere Argumentationslinie verstärken – die gegen Gewalt, für sanfte Reformen und für eine Erweiterung der politischen Freiheiten. Das Beobachten des postsowjetischen Raums verschafft den russischen Offiziellen Zeit zum Nachdenken.