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Was haben Lukaschenko und Putin unterschrieben


Die Unterzeichnung der Programme zur Integration Weißrusslands und Russlands durch Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin bleibt in der weißrussischen Gesellschaft ein Hauptthema für Diskussionen. Die politischen Opponenten des weißrussischen Regimes behaupten, dass es zu einer Aufgabe der Souveränität gekommen sei. Andere bezeichnen das Ereignis als ein rituelles und eines, das nichts bedeuten würde. Unbestimmtheit verleiht der Situation das Nichtvorhandensein der Wortlaute der Dokumente.

Im Grunde genommen haben Lukaschenko und Putin nicht die Programme an sich unterzeichnet, sondern das Dekret „Über die Hauptrichtungen für die Realisierung der Bestimmungen des Vertrags über die Bildung des Unionsstaates in den Jahren 2021-2023“. Dieses Dokument schlägt vor, diese Hauptrichtungen zu bestätigen, aber auch die „Unionsprogramme“, die ihr „untrennbarer Bestandteil“ sind. Weder von einer Anzahl noch vom Inhalt der Hauptrichtungen und Programme ist im eigentlichen Dekret die Rede.

Dass es 28 Programme seien, wurde Anfang September mitgeteilt, als die Regierungen Russlands und Weißrusslands sie billigten und Lukaschenko und Putin abstimmten. Damals wurden auch auf der Internetseite der Regierung Russlands die Namen dieser Programme und deren kurze Inhaltsangabe veröffentlicht. Die weißrussische Seite hatte zu diesem Thema keinerlei ausführliche Erklärungen abgegeben.

Wie sich aus den veröffentlichten Informationen ergibt, geht es in den Programmen um eine „Harmonisierung“ und „Unifizierung“ der Gesetzgebung hinsichtlich mehr als 20 Aspekte des Lebens und Wirkens des Staates. Beispielsweise ist für die Steuer-, Zoll-, Währungs-, Geld- und Kreditrichtungen eine Harmonisierung vorgesehen, in der Industrie und Landwirtschaft – eine gemeinsame Politik, für die Systeme zur Nachverfolgung der Bewegung und Markierung von Waren sowie veterinärmedizinische, phytosanitäre und Transportkontrolle – eine Integration. Das Rechnungswesen, die Handels- und touristische Tätigkeit erwartet eine „Unifizierung“. Was die strittigen Fragen der einheitlichen Energiemärkte angeht, so haben die Seiten beschlossen, sich darüber zu einigen. Bezüglich des Öl- und Strommarktes werden keine Fristen ausgewiesen. Und vorgeschlagen wird, bis zum 1. Dezember 2023 die „Hauptprinzipien für das Funktionieren“ des gemeinsamen Gasmarktes auszuarbeiten und zu vereinbaren, wann sie in Kraft zu treten beginnen. Von einer gemeinsamen Währung noch von der Bildung übernationaler Organe sowie von einer politischen Integration ist da nicht die Rede.

Das Nichtvorhandensein der Wortlaute der Programme und der Hauptrichtungen, die Lukaschenko und Putin per Dekret bestätigten, hat unter Experten und Politikern eine lebhafte Diskussion mit oft direkt entgegengesetzten Schlussfolgerungen ausgelöst.

Die politischen Opponenten von Alexander Lukaschenko erinnerten erneut daran, dass er kein legitimes Staatsoberhaupt sei und folglich alle durch ihn unterzeichneten Dokumente „juristisch nichtig“ seien. „Alle Abkommen und Dokumente, die durch das Regime nach den Wahlen unterschrieben worden sind, sind illegitim und können durch die neue Regierung revidiert werden. Dies betrifft auch jegliche „Roadmaps“ zur Integration“, erklärte die Führerin der weißrussischen demokratischen Kräfte Swetlana Tichanowskaja. „Die Russische Föderation begeht einen strategischen Fehler, indem sie ihre Zusammenarbeit mit dem Mann vertieft, der auf ungesetzliche Weise die Macht in Belarus hält, was unweigerlich die Bewertung der Handlungen der russischen Offiziellen zum Abschluss dieser bilateralen Abkommen durch die weißrussische Gesellschaft verschlechtert“, konstatierte der Ex-Minister und Ex-Diplomat Pawel Latuschko. Politiker lenken in ihren Kommentaren das Augenmerk auf das Ausbleiben der Programmtexte, was hindert, deren möglichen Konsequenzen zu beurteilen, und schließen nicht aus, dass es da gewisse Bestimmungen geben könne, die die Souveränität von Weißrussland gefährden.

Von einer Aufgabe der Souveränität spricht der Politologe Pawel Usow. In seinem Telegram-Kanal schreibt er darüber, dass sich Russland nicht mit Peanuts abgeben und versuchen werde, irgendwelche einzelne Unternehmen zu bekommen, denn „sie (die russischen Offiziellen – Anmerkung der Redaktion) brauchen das ganze Land. Sie brauchen den gesamten Raum“. Er ist mit den Experten nicht einverstanden, die die Unterzeichnung der Integrationsdokumente als eine Fiktion und leere Formalität bezeichnen. „Wenn für Moskau diese „Maps“ eine leere Formalität gewesen wären und sich ausschließlich auf eine symbolische Relevanz beschränken würden, hätte Russland nicht den Energie- und politischen Krieg in Bezug auf Lukaschenko entfesselt“, nimmt er an.

Ohne zu leugnen, dass um die Programme wirklich viele Lanzen gebrochen worden sind, lenken Analytiker die Aufmerksamkeit auf deren sich im Verlauf der Diskussion veränderte Anzahl und Inhalt. Es sei daran erinnert, dass vor den Präsidentschaftswahlen in Weißrussland die Verbündeten in den Jahren 2018-2019 keine Programme, sondern „Roadmaps“ diskutiert hatten. Offiziell wurde behauptet, dass es deren 28 seien. Später jedoch, als sie bereits vollständig fertig waren und Lukaschenko sich weigerte, sie zu unterschreiben, gestand er ein, dass es von ihnen tatsächlich 31 gab (wie auch die nunmehrigen waren die diskutierten „Maps“ nicht veröffentlicht worden). „Es gibt eine sogenannte 31. „Roadmap“. Dies ist ein Plan für die Gestaltung übernationaler Organe. Ein Parlament, vielleicht wird es einen Präsidenten geben, usw.“, erzählte Lukaschenko in einem Interview des Hörfunksenders „Echo Moskaus“.

„Die Ersetzung der „Maps“ durch Programme bedeutet eine Aushöhlung ihres Inhalts“, meint der politische Analytiker Vitalij Zygankow. „Ein Set von gummiartigen Wörtchen vom Typ „Annäherung“, „Harmonisierung“, „Integration“ und nur selten „Unifizierung““, charakterisiert der politische Kommentator Alexander Klaskowskij die unterzeichneten Dokumente. Der Experte bezeichnet sie als dekorative und keine politische Integration vorsehenden.

„Die unterschriebenen Dokumente sind: a) weit von der Version des Jahres 2019 mit einer politischen Integration entfernt, b) hinsichtlich der Zeiträume in die Länge gezogene und de jure an keine konkreten Zuckerbrote und Peitschen gebundene sowie c) in den Formulierungen (Harmonisierung, gemeinsame Herangehensweisen, Annährung) verwaschene“, schreibt der politische Analytiker Artjom Schraibman in seinem Telegram-Kanal über die Integrationsprogramme. „Man kann sie auf verschiedene Weise auslegen und sich über Jahre hinweg um diese Auslegungen streiten“, meint er. Mit der Unterzeichnung solcher ausgehöhlten Dokumente „haben die Seiten eigenhändig die Planke für die Ambitionen hinsichtlich der Schaffung einer Union heruntergesetzt, indem sie Themen wie das einer gemeinsamen Währung in eine ferne Zukunft gerückt haben“, betont der Analytiker.

Nach Meinung von Klaskowskij hätte Lukaschenko die Unterzeichnung nicht gebraucht, und sie sehe ungeachtet des deklarativen Charakters der Dokumente wie eine Aufgabe der Hauptpositionen durch ihn aus. Der Experte betont, dass nach dem 4. Oktober, als die Unterzeichnung erfolgte, Lukaschenko bereits mehrfach „vor einheimischen Einwohnern über Vieles Überlegungen angestellt hat – über eine gesunde Lebensweise bis zum Feiertag der Oktoberrevolution. Er hat sich sogar an das Erbe der Österreichisch-Ungarischen Monarchie erinnert. Er hat es aber nicht für nötig gehalten zu erklären, was er da doch am Vorabend mit Wladimir Putin unterschrieben hat“. „Für viele sieht das Bild so aus: Moskau hat unter Ausnutzung der schwierigen Lage des weißrussischen Verbündeten ihn doch mit der berüchtigten „Vertiefung der Integration“ rumgekriegt“, urteilt der Experte. Die Beurteilungen der Experten laufen vom Wesen her darauf hinaus, dass sich in den Beziehungen der Verbündeten nichts verändert hätte. Die unterzeichneten Programme seien keine Dokumente mit einer direkten Wirkung. Und man könne sie noch länger als ein Jahrzehnt diskutieren. Zur gleichen Zeit sei dies aber alles, „wie unerheblich auch die unterzeichneten Programme sein mögen, dennoch ein weiterer strategischer Schritt zur Einschränkung der weißrussischen Souveränität und Vergrößerung der Abhängigkeit von Russland“, meint Vitalij Zygankow.