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Was kann die Europäische Union Patriarch Kirill wegnehmen?


Am Mittwoch diskutierte die Europäische Kommission ein sechstes Sanktionspaket gegen Russland. Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen hatte bereits einige Restriktionen angekündigt. Die Nachrichtenagentur AFP behauptete, dass auch noch Maßnahmen gegen den Patriarchen von Moskau und Ganz Russland Kirill geplant seien. Allerdings hatte die Agentur keine Details ausgewiesen. Und am Donnerstag waren aus Brüssel gleichfalls keine entsprechenden Signale auszumachen.

Wenn solch eine Entscheidung getroffen wird, ist eine Erklärung erforderlich: Sanktionen werden persönlich gegen das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche (ROK) oder gegen das gesamte Moskauer Patriarchat verhängt? Und worin werden sie dann bestehen? Möglicherweise wird dem Patriarchen einfach eine Einreise in die westlichen Länder untersagt werden. Es ist aber nicht auszuschließen, dass seine Konten im Ausland auf Eis gelegt werden können. Laut einigen Vermutungen können sich in Banken westlicher Länder finanzielle Ressourcen befinden, die der gesamten Kirche gehören, jedoch persönlich unter dem Namen des Leiters der religiösen Organisation verwaltet werden. Exakte Summe kennt natürlich keiner. Es waren jegliche Vermutungen laut geworden, darunter recht fantastische. Aber keiner wollte oder konnte bisher diese Versionen bestätigen oder dementieren.

Außerdem befindet sich im Ausland Eigentum der ROK: Gotteshäuser, Immobilien. Die meisten der rund 900 Objekte sind den ausländischen Diözesen zugeordnete. Es gibt aber auch einige stauropigale (direkt dem Patriarchen oder dem Heiligen Synod und nicht der regionalen kirchlichen Hierarchie unterstehende) Gemeinden: die Kirche zum Hl. Nikolaus, dem Wundertäter in Bari, die Kirche zur Geburt der Gottesgebärerin in Genf (Vertretung der Russischen orthodoxen Kirche beim Weltkirchenrat), die Allerheiligenkirche in Strasbourg (Vertretung der Russischen orthodoxen Kirche beim Europarat).

Zu einer indirekten Konsequenz einer derartigen möglichen Entscheidung der Europäischen Kommission können repressive Gesetze gegen die Ukrainische orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats werden. In der Werchowna Rada der Ukraine ist vorerst die Behandlung mehrerer Gesetzesvorlagen, die eine Tätigkeit der Ukrainischen orthodoxen Kirche verbieten und sogar eine Nationalisierung von Kircheneigentum vorsehen, ausgesetzt worden. Die ukrainischen Politiker haben bisher entschieden, diese Vorschläge nicht zu erörtern, um die Gesellschaft nicht zu spalten. Die mögliche Entscheidung der Europäischen Union in Bezug auf die von Patriarch Kirill geleitete Kirchenorganisation kann jedoch zu einem Katalysator für eine Wiederaufnahme des Prozesses zur Liquidierung der Ukrainischen orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats werden, was die radikalsten Vertreter des politischen Establishments und der Orthodoxen Kirche der Ukraine, die als Gegengewicht zum Moskauer Patriarchat mit dem Segen des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel geschaffen worden war, verlangen.

Sanktionen gegen den 75jährigen Patriarchen werden nicht nur finanzielle Relevanz persönlich für das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche und für das Schicksal der Kirche im Ausland, sondern auch politische Bedeutung für Russland an sich haben. Dies würde einen Präzedenzfall schaffen. Bisher waren gegen christliche Spitzenvertreter noch keine Restriktionen verhängt worden. Einschränkungen betrafen nur iranische Ajatollahs, vor allem Ali Chamenei. Hier liegt jedoch eine andere Situation vor. Im Iran ist das politische System unverbrüchlich mit dem Islam verbunden. Und die geistlichen Führungskräfte nehmen unmittelbar an der Leitung des Landes und am Treffen von Entscheidungen teil. Chamenei ist überhaupt der Oberste Führer der Islamischen Republik Iran.

Eine andere Sache ist das politische System Russlands. Hier ist die Kirche offiziell vom Staat getrennt. Patriarch Kirill bekleidet keinerlei offizielle staatliche Ämter. Dementsprechend kann er auch nicht offiziell auf die Annahme von Entscheidungen Einfluss ausüben. Die Praxis zeigt, dass auch die informelle Autorität des Patriarchen ihm nicht erlaubt, eigenständige Erklärungen abzugeben. Er folgt eher dem politischen Willen der Herrschenden und der Meinung der Bevölkerung. Dies belegt die Zunahme des Vertrauens gegenüber dem Patriarchen nach Beginn der Sonderoperation am 24. Februar, wie eine Umfrage der kremlnahen Stiftung für öffentliche Meinung auswies. Während in den Jahren 2020 und 2021 ein Einbruch des Ratings zu verzeichnen war, als das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche gezwungen war, die bei den Gläubigen und konservativen Bürgern Russlands unpopulären sanitär-hygienischen Maßnahmen gegen das Coronavirus zu unterstützen.

Es sei daran erinnert, dass man in Litauen vorgeschlagen hatte, Sanktionen gegen Patriarch Kirill zu verhängen. Der Außenminister dieses Landes Gabrielius Landsbergis hatte sich mit solch einer Initiative hervorgetan. Derzeit entwickelt sich in der Litauischen Diözese (Eparchie) der Russischen orthodoxen Kirche ein Konflikt zwischen der Führung und einer Gruppe von Geistlichen, die zum Patriarchat von Konstantinopel wechseln wollen. Nach Meinung des litauischen Chefdiplomaten verderbe das Oberhaupt der ROK durch seine Auftritte im Zusammenhang mit der sogenannten militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine die Seelen. Es sei betont, dass solch eine Einmischung in religiöse Angelegenheiten auch die europäischen Prinzipien hinsichtlich einer Nichteinmischung in das religiöse Leben und das Festhalten an religiöse Freiheit untergräbt. Allerdings ist dies nicht der einzige europäische Wert, der im Verlauf des Sanktionskrieges gegen Russland einer Korrosion ausgesetzt wird.

In einer Serie von Predigten hatte Patriarch Kirill wirklich Äußerungen vorgenommen, die man als eine Unterstützung für die international umstrittene militärische Sonderoperation werten kann. Das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche ignoriert vor allem praktisch die Kampfhandlungen zwischen den Streitkräften Russlands und der Ukraine. Er „warnt“ vor einem hypothetischen Bruderkrieg der beiden Völker, obgleich schon jetzt der Konflikt offenkundig ist. Der Patriarch legt ihn jedoch als Provokation des Westens aus, der anstrebe, in Russland fremde Werte wie beispielsweise Gay-Paraden zu verbreiten. Vielen scheint, dass das Thema der Gay-Paraden vor dem Hintergrund der sich inmitten von Europa abspielenden Ereignisse bereits vollkommen deplatziert sei. Die Feinde weisen gleichfalls auf den Appell des Patriarchen an die Bürger, sich um Russlands Führung zusammenzuschließen, hin.

In einer Predigt hat der Patriarch am Dienstag, dem 3. Mai ein weiteres Mal seine Hauptthesen wiederholt. Erstens fing er an, die russische Autokratie zu preisen. Zweitens wiederholte er seine Überzeugung von der Friedensliebe Russlands, was die Kritiker Russlands und der Russischen orthodoxen Kirche schrecklich reizt. „Wir zelebrieren Gebete, wobei wir von Särgen von Zaren und Zarinnen umgeben sind“, sagte das Oberhaupt der ROK bei einem Gottesdienst in der Erzengel-Michael-Kathedrale des Moskauer Kremls. „Unter ihnen waren herausragende Menschen, begabte. Einige waren Menschen durchschnittlicher Fähigkeiten. Aber unter ihnen hatte es nicht einen einzigen Verräter gegeben. Alle dienten entsprechend ihrer Kräfte der Heimat. Alles, was sie hatten, haben sie hergegeben. Diejenigen, die begabt waren, beispielsweise ausgezeichnete Feldherren, haben natürlich mehr als jene gegeben, die mittlere Fähigkeiten hatten. Aber Gott nimmt von jedem entsprechend den Fähigkeiten! Und all jene, die hier ruhen, denen beschieden war, in der Erzengel-Michael-Kathedrale des Kremls eine letzte Ruhe zu finden, sie alle haben gemäß dem Glauben und treu der orthodoxen Kirche und ihrem Vaterland gedient. Dies sind jene bemerkenswerten Menschen, die für uns das große und wunderbare Land bewahrt haben“. „Und heute erinnern wir uns feierlich an die heiligen Namen der Herrscher unseres Landes, der Zaren und Zarinnen, der Großfürsten und -fürstinnen, jener, die auf ihren Schultern die Last der gewaltigen Verantwortung für das historische Bestehen unseres Landes, unserer Kirche und unseres Volkes getragen haben. Viele von ihnen sind natürlich bei dem Herrn. Der eine ist gerühmt und gepriesen worden, ein anderer ist nicht gerühmt worden. Heute aber wenden wir uns auch an sie, indem wir für sie beten, und zwar mit der Bitte, für den russischen Staat zu beten, für unser Land, damit unsere heiligen Grenzen uneinnehmbare sind, damit es uns stets an Weisheit, Kraft und Ehre gereiche, sie im Bedarfsfall zu verteidigen“, erklärte er. „Wir wollen gegen keinen kämpfen. Russland hat nie wen angegriffen“, behauptete der Patriarch. „Es ist erstaunlich, dass das große und mächtige Land nie wen angegriffen hat. Es hat nur seine Grenzen verteidigt“, sagte er gleichfalls. Möglicherweise ist diese Predigt auch zu der kleinen Feder geworfen, die die Waagschalen in Bewegung brachte, auf denen die Europäische Kommission die „Sünden“ des Patriarchen mit dem christlichen Pazifismus abzuwägen suchte.