Russland kann schrittweise aus dem Projekt der Internationalen Raumstation (ISS) aussteigen. Dies meldete vor einiger Zeit die russische Nachrichtenagentur TASS unter Verweis auf eine Erklärung des Generaldirektors von Roskosmos Dmitrij Rogosin.
„Von einer Versenkung der ISS im Jahr 2025 ist keine Rede. Es geht um die Möglichkeit unseres schrittweisen Aussteigens aus diesem Projekt und die Schaffung einer neuen nationalen orbitalen Dienststation“. So antwortete Rogosin einem der Kommentatoren auf seiner Facebook-Seite.
Der Roskosmos-Chef teilte mit, dass dem Raketen- und Kosmos-Konzern „Energia“ die Aufgabe gestellt wurde, die Bereitschaft des ersten Basismoduls für die neue russische Orbitalstation im Jahr 2025 zu gewährleisten. Rogosin veröffentlichte gleichfalls ein Video über das zu schaffende erste Modul. Zu diesem werde das Wissenschafts- und Energiemodul, das im Jahr 2024 zur Internationalen Raumstation gestartet werden sollte.
Zuvor waren im Apparat des zuständigen Vizepremiers Jurij Borissow die Worte zu vernehmen, wonach „der Zustand der ISS zu wünsche lasse“. nicht. Die Station bedürfe unter anderem einer technischen Untersuchung, um jegliche Risiken im Falle von Havarie-Situationen zu vermeiden. Von den Ergebnissen dieser Untersuchung werde die Entscheidung über das weitere Schicksal der ISS abhängen. Seinerseits äußerte Borissow in einem Interview für die TV-Sendung „Moskau. Kreml. Putin“ (die im russischen Staatsfernsehen sonntags und montags mehrfach ausgestrahlt wird – Anmerkung der Redaktion) die Vermutung, dass Russland im Jahr 2025 aus dem Projekt ausscheiden könne. Womit kann man aber derartige Erklärungen erklären?
Nächste Pläne
Im November dieses Jahres begeht die ISS ihr 23jähriges Bestehen. Dies ist ein solides Alter, die periodischen Störfälle werden zu unvermeidlichen.
Am 21. April teilte der Flugleiter des russischen Segments der Station, Wladimir Solowjow, den Medien mit, dass bis zu 80 Prozent der Ausrüstungen und Anlagen der Dienst- und Bordsysteme des russischen Segments ihre geplante Einsatzdauer vollkommen abgearbeitet hätten. Kurze Zeit davor war es im Modul „Swjesda“ („Stern“) zum Entweichen von Luft gekommen. Innerhalb von 11,5 Stunden hatte sich der Luftdruck bis auf 678 Millimeter entsprechend der Quecksilbersäule verringert, während er in der Station normalerweise 730 Millimeter gemäß der Quecksilbersäule ausmacht.
Derzeit sind die Finanzierung und der Betrieb der Station bis einschließlich 2024 abgestimmt worden. Es wird aber auch ein weiterer Zyklus einer Verlängerung der Einsatzdauer bis zum Jahr 2030 erörtert.
Im laufenden Jahr ist geplant, an der ISS das russische, 25 Tonnen schwere multifunktionale Labormodul „Nauka“ („Wissenschaft“) anzukoppeln. Es wird den Platz des Moduls „Pier“ einnehmen, das im Pazifik versenkt wird. Darüber hinaus wird das neue russische Modul die Funktionen von „Pier“ vollkommen übernehmen. Danach ist geplant, dass bis Ende des Jahres 2021 ein Kopplungsmodul mit zusätzlichen Andockmöglichkeiten an das russische Segment anlegen wird.
Im russischen Segment der ISS wird man den wissenschaftlichen Komplex „Monitoring des gesamten Himmels“ installieren, der im Verlauf von drei Jahren eine genaue Lagekarte aller Objekte in der Himmelssphäre erstellen wird.
Im Jahr 2024 plant die US-amerikanische Firma Axiom Space, an das Modul „Harmony“ das erste kommerzielle Modul anzudocken, und an dieses – zwei andere, und sie für den Weltraumtourismus zu nutzen. Nach Abschluss des ISS-Projekts plant man, die Module mit einem unabhängigen Lebenssicherungssystem nachzurüsten, abzukoppeln und als eine kommerzielle Orbitalstation zu nutzen.
Die Müllfrage
Man sollte glauben, dass alles gut und schön klingt und alles laut Plan erfolgt. Allein schon nur das Modul „Nauka“ – ein autonomes, das sogar in der Lage ist, im autonomen Regime an der ISS anzukoppeln. Wie bei den Sojus- und Progress-Raumschiffen erfolgt die Orientierung mit Hilfe des funktechnischen Systems „Kurs“. Damit unterscheidet sich das multifunktionale Labormodul von analogen ausländischen, aber werden Roskosmos die Kräfte und Ambitionen ausreichen, um im Weiteren die Konzeption autonomer Module umzusetzen, für deren Andocken und Entfernen es nicht mehr erforderlich sein wird, in den offenen Kosmos auszusteigen? Schließlich sollte beispielsweise das „Nauka“-Modul nicht einmal vor fünf Jahren, sondern ursprünglich im Jahr 2007 gestartet werden. Im Verlauf dieser Jahre, in denen die Papierarbeit vorankam und ein Ringen um eine weitere Finanzierung erfolgte, hat das Modul eine Überarbeitung erlebt. In System des Moduls wurden zweimal Metallspäne entdeckt. Der erste Zwischenfall ereignete sich im Juli 2013. Während der Durchführung von Arbeiten waren sie in Treibstoffleitungen. Laut einer Version von Spezialisten hätten sie bei Arbeiten zur Modernisierung des Moduls in den Nulljahren auftauchen können. Damals war die gesamte Konstruktion des „Nauka“-Moduls verändert worden. Es wird die Auffassung vertreten, dass sich nach einem Ankoppeln des Moduls an der Station diese Späne im gesamten Treibstoffsystem verbreiten und Ventile verstopfen. Letzten Endes wurde der Defekt beseitigt, und das Modul kam zu Abschlusstests nach Baikonur.
Die bürokratischen Regulierungsarbeiten hatten den Termin für den Beginn der Tests verzögert, so dass die realen Arbeiten mit dem multifunktionalen Labormodul erst an der Wende des Jahres 2016 zum Jahr 2017 begannen. Gerade da wurden erneut Metallspäne entdeckt. Dieses Mal in den Sylphon-Treibstofftanks (Membranen-Treibstofftanks) des Moduls. Sylphone bzw. Metallfaltenbälge sind Vorrichtungen aus foliendünnem Stahl, die äußerlich einem Ziehharmonikabalg ähnlich sind und die flüssige und gasförmige Phase im Aluminiumtank trennen. Mit ihrer Hilfe kann man durch Stickstoff den Treibstoff oder das Oxydationsmittel aus dem Tank herausdrücken oder umgekehrt, diesen aufs Neue auftanken. Das Vorhandensein von Fremdkörpern in dieser Konstruktion ist für sie verderblich und kann hypothetisch sogar auch die ISS an sich in Gefahr bringen.
Da die Kurskorrekturen der Station durch russische Triebwerke vorgenommen werden, können Metallspäne in das Treibstoffsystem geraten und dessen Ventile lahmlegen. In diesem Fall wird die Station nicht dem Kosmos-Müll ausweichen können, während sich das Manövrieren zwischen diesem schon seit langem zu einem Routine-Quest gewandelt hat. Die Geschwindigkeit des Kosmos-Mülls im All hinsichtlich anderer Objekte kann 10 Kilometer in der Sekunde erreichen. Das heißt: Sie ist sechsmal größer als die untere Grenze des Hyperschalls. Man kann sich nur vorstellen, was für eine kolossale kinetische Energie in solch einer Situation sogar eine winzige Schraube hat, wenn sie in der Lage ist die gepanzerte Verkleidung zu durchschlagen. Selbst ein Sandkörnchen, das mit einer Geschwindigkeit von 7152 Metern in der Sekunde auf das 14 Millimeter starke Glas des Bordfensters aufprallt, hinterlässt für das Auge sichtbare Risse. Daher ist es nicht schwer zu erahnen, wie ernsthaft die Folgen aus dem Kontakt eines größeren Objekts mit der Station sein werden.
Do It Yourself
Die Verwandlung des erdnahen Weltraums in eine Müllkippe, aber auch das Platzenlassen von Terminen sind nur halb so schlimm. In der letzten Zeit verlagert sich die Aufmerksamkeit auf rein nationale Projekte.
Heute, unter den Bedingungen einer neuen Pandemie-Welle, sucht jedes Land nach Methoden für einen Zusammenschluss seiner Bürger. Ein nationales Projekt, das besonders den Kosmos betrifft, ist ein ideales Instrument. Zweitens ändert sich die politische Konjunktur. Die russisch-amerikanischen Beziehungen werden durch einen „Eisernen Vorhang 2.0“ umgekrempelt. Auch wirkt sich der Kampf der USA um die Bewahrung der Hegemonie-Rolle aus, an die man sich in Washington nach dem Zusammenbruch des bipolaren Systems zu gewöhnen geschafft hat. Die großen geopolitischen Akteure, die an Weltraumforschungen interessiert sind, verspüren ausgezeichnet einen Druck, zum Beispiel in Form von Vorwürfen an die Adresse Russlands und der Volksrepublik China, der größten Konkurrenten der Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Weltraumforschungen, wonach sie „Killer-Satelliten“ schaffen würden. Dazu kommt das extreme Misstrauen gegenüber den normativen und regulierenden Dokumentenentwürfen zum Kosmos, die durch Russland und China vorgeschlagen werden. Und dies alles vor dem Hintergrund dessen, dass seit dem Jahr 2014 die militärischen Spannungen zunehmen, die ausgiebig mit Wirtschaftssanktionen und politischem Druck angereichert werden. Das Motiv für ein Arbeiten unter solchen Bedingungen reduziert sich auf ein Minimum – es ergibt sich die Notwendigkeit, irgendetwas Eigenes zu schaffen.
Wie heißt es doch: Willst du ein ideales Ergebnis bekommen, mach’ die ganze Arbeit selbst! Am 12. April 2021 (am 60. Jahrestag des Fluges des ersten Menschen – des Sowjetbürgers Jurij Gagarin – in den Kosmos – Anmerkung der Redaktion) ist bei einer Beratung mit Präsident Wladimir Putin der Kurs auf die Schaffung einer eigenen Orbitalstation und den Verzicht auf eine Nutzung der ISS vorgegeben worden. Zuvor hatte im Verlauf einer Beratung unter Leitung des Präsidenten der Russischen Akademie der Wissenschaften, Alexander Sergejew, das Korrespondierende Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, der Fliegerkosmonaut und der 1. Stellvertreter des Generaldirektors des Raketen- und Kosmos-Konzerns „Energia“ Wladimir Solowjow die Umrisse der neuen russischen Orbitalstation mit einer offenen Architektur und einer unbeschränkten Einsatzdauer durch eine Ersetzbarkeit der Module vorgestellt. Wie angenommen wird, wird das neue Projekt, das als Russische Orbital- und Dienststation (RODS) bekannt ist, aus drei bis sieben Modulen mit der Möglichkeit des Arbeitens einer Besatzung aus zwei bis vier Personen bestehen. Das Schwergewicht wird jedoch auf ein Arbeiten im autonomen Regime gelegt. Dies reduziert die Einsatzkosten und erhöht den wissenschaftlichen Nutzen der RODS.
Vorgesehen ist, im Zeitraum nach dem Jahr 2024 den Aufbau der Station im All zu beginnen. Dabei sollen alle Module vom Kosmodrom Wostotschnyj (im Fernen Osten Russlands – Anmerkung der Redaktion) ins All gebracht werden. Dieses Projekt soll zum Beginn eines russischen nationalen Kosmos-Programms werden. Es muss dennoch aber eingestanden werden, dass auch die russische Raketen- und Raumfahrtindustrie einen Verfall erlebt hat. Selbst das private Unternehmen SpaceX von Elon Musk kann mehr zivile Starts als Russland vorweisen. Und dies erfolgt vor dem Hintergrund des Auftauchens neuer Akteure auf dem Gebiet der Raumfahrt und Weltraumforschung, die sich nicht mit orbitalen Peanuts abgeben, sondern die Mond-Karte ausspielen. Als solch einen Akteur kann man die Republik Türkei bezeichnen, die ihr 100-jähriges Bestehen mit dem Start eines Mondprogramms begehen will. China und Indien, die nicht zum „geschlossenen Klub“ der ISS gehören, erörtern ebenfalls Schritte, um die Grenzen der Wiege der Menschheit zu überschreiten. Und was kann ihnen Russland entgegenhalten? Vor deren Hintergrund sieht das Sich-Beschränken auf die sowjetischen Errungenschaften ohne die Entwicklung eines modernen Weltraumforschungsprogramms als solches beschämend aus.
Eine Schande vermeiden
Es ist kein Geheimnis, dass die russische Raumfahrtagentur Roskosmos unter Führung von Rogosin immer häufiger zu einem Objekt der Kritik wird (aber auch von beißendem Spott und hämischen Kommentaren – Anmerkung der Redaktion). In den letzten Jahren werden gewaltige Geldsummen verpulvert. Man erinnere sich da nur an die Verstöße beim Bau des Kosmodroms Wostotschnyj und die damit verbundenen Strafverfahren. Selbst Ex-Präsident und Ex-Premier Dmitrij Medwedjew erklärte im Jahr 2019, dass es für die Korporation „reicht, darüber zu schwatzen, wohin wir im Jahr 2030 fliegen werden“.
Ein Jahr später kritisierte bereits auch Wladimir Putin Roskosmos deswegen, dass nicht rechtzeitig das Programm für die Entwicklung der superschweren Rakete „Jenissej“ bestätigt worden sei. Und im März dieses Jahres teilte der Leiter des Rechnungshofs Alexej Kudrin mit, dass man in Roskosmos wieder Unregelmäßigen gefunden hätte. Dieses Mal machten sie wertmäßig 30 Milliarden Rubel aus. Ungeachtet all dessen leitet Rogosin immer noch Roskosmos. Es hatte den Anschein gehabt, dass man in der Zeit bis zum Jahr 2014 noch ein eigenes Kosmos-Programm entwickeln und die technologische Grundlage vorbereiten konnte. Die Führung der staatlichen Korporation hat aber nichts in dieser Richtung getan. Im Zusammenhang damit ist sogar unmerklich das Monopol bezüglich der Beförderung von Astronauten zur ISS verloren gegangen. Schon sehr bald werden die Nische, die durch die Sojus-Raketen ausgefüllt wurde, die US-amerikanischen bemannten Raumschiffe Crew Dragon von SpaceX und Starliner von Boeing ausfüllen. Und dies wird zu Verlusten von zig Millionen Dollar führen.
Somit wird direkt jetzt ein kritischer Schlag nicht nur dem Raketen- und Raumfahrtkonzern „Energia“, der die Raumschiffe „Sojus MS“ baut, versetzt, sondern auch der gesamten russischen bemannten Raumfahrt, die faktisch durch die internationale Zusammenarbeit finanziert wurde. Wenn man auch weiterhin nichts unternimmt, wird sich in der nächsten Zukunft der 12. April aus einem Feiertag in einen Tag der Schande verwandeln. Und das berühmte Gagarin-Lächeln wird zu einem stummen Vorwurf gegen jene, von denen das Schicksal der russischen bemannten Raumfahrt abhängt.