Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

„Was wir tun, ist das Gegenteil von Russophobie“


Als am 5. Februar 2020 Géza Andreas von Geyr im Alexandersaal des Moskauer Kremls Präsident Wladimir Putin sein Beglaubigungsschreiben als neuer bundesdeutscher Botschafter in Russland überreichte, hatte er mit Sicherheit nicht gedacht, dass seine Dienstzeit eine so schwere werden wird. Nach der COVID-19-Pandemie kam dann aber der 24. Februar 2022, der Beginn der sogenannten russischen militärischen Sonderoperation in der Ukraine, die bereits mehr als 500 Tage andauert. Und da setzte eine Talfahrt in den russisch-deutschen Beziehungen ein, deren Ende scheinbar nach wie vor nicht abzusehen ist. Gerade in den letzten Monaten erlebten diese Beziehungen neue Prüfungen und schwere Schläge, an die der scheidende Botschafter in seiner Ansprache anlässlich seines Abschiedsempfangs in der Botschaft in Moskau am 25. Juli noch einmal erinnerte. Bereits in den kommenden Wochen wird der neue Botschafter — Alexander Graf Lambsdorff – in der russischen Hauptstadt erwartet. Selbst die Moskauer Polizeibeamten an der Botschaft versäumen es nicht, deutsche Journalisten, die die bundesdeutsche diplomatische Vertretung an der Mosfilmowskaja-Straße aufsuchen, zu befragen, ob sie nicht den genauen Ankunftstermin von Lambsdorff nennen könnten. Die Redaktion „NG Deutschland“, deren Mitarbeiter selbst mehrfach die Gelegenheit hatten, mit Dr. Géza Andreas von Geyr zu sprechen und den gebürtigen Münchner bei unterschiedlichsten Veranstaltungen erleben konnten, veröffentlicht im Nachfolgenden den Wortlaut der beeindruckenden und emotional teilweise bewegenden Ansprache.

„Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Botschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen Botschafter, liebe Freunde,

in einigen Tagen werde ich Moskau verlassen, nach vier Jahren. Diese Jahre waren ganz außergewöhnlich. Sie waren faszinierend und enttäuschend, glücklich und traurig – ganz gewiss nie langweilig. Es waren kritische Jahre. Wir alle zusammen haben hier in Moskau eine wahrlich historische Zeit miterlebt.

Was kann ich dazu heute sagen?

So wie wir uns heute treffen, sterben in der Ukraine wegen dem furchtbaren Angriffskrieg Russlands Menschen auf dem Schlachtfeld, auch zu dieser Stunde. Odessa und Kornkammern werden bombardiert. Und immer mehr Menschen fragen sich hier und auf der ganzen Welt: Wofür?

So wie wir uns heute treffen, wächst die Angst vieler Menschen. Einige unserer Partner, Menschen, mit denen wir jahrelang gern zusammengekommen sind, haben Angst, heute in die deutsche Botschaft zu kommen, um dem Botschafter „Auf Wiedersehen“ zu sagen.

So wie wir uns heute treffen, wird mein Land als „unfreundlicher Staat“ tituliert, also als Feind. Unsere Präsenz und die vieler westlicher Botschaften, von Kultur und Wissenschaft ist enorm reduziert. Russland möchte sich vom Westen, also von uns isolieren.

All dies hätte ich mir 2019 (im September war von Geyr in Moskau eingetroffen – Anmerkung der Redaktion) so nicht träumen lassen.

Was kann ich also heute sagen?

Vor allem möchte ich allen danken, mit denen wir diese schwierige Zeit gemeinsam durchleben. Ich meine alle, deren Präsenz in dieser Zeit, im Kern des Kerns danach strebt, zu einem friedvollen Miteinander, zu einem echten Frieden zu gelangen.

Ich danke zuvorderst meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an meiner Botschaft, auch an unseren Konsulaten. Und zwar dem ganzen Team, den Entsandten und den russischen Lokalbeschäftigten.

Ich danke Ihnen für klugen Rat und für viel Geduld mit Ihrem Botschafter. Ich danke für die beeindruckende Arbeit, wie Sie den einzigartigen Absturz der bilateralen Beziehungen ertragen.

Und ich danke für das Engagement, mit dem sie Sie vorher und auch jetzt unzählige wunderbare Veranstaltungen organisieren – wie den heutigen Abend.

Stellvertretend für alle möchte ich nur die nennen, die mich in meiner Residenz so gut betreut haben. Und ich möchte die Kollegen an der Pforte erwähnen, die mich jeden Morgen so freundlich begrüßen. Das tut gut für den ganzen Tag, es tut gut überhaupt für das Hiersein.

Ich danke denen, die wir im Laufe der vier Jahre verloren haben. Seit 2019 sind fast 90 Entsandte und deren Familien ausgewiesen worden. Vor wenigen Wochen wurden wir gezwungen, hunderten Lokalbeschäftigten – auch an unseren Schulen und Kulturinstituten – zu kündigen. Schon zuvor wurden viele deutsche Stiftungen, Wissenschaftsinstitute, Journalisten aus dem Land geworfen.

Ich wurde in den letzten Tagen oft gefragt, was denn bei all den Krisen die schlimmsten Momente waren. Für mich bestimmt die erzwungene Trennung von vielen russischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, mit denen wir lange und gern zusammengearbeitet haben.

Ich gehe mit großem Respekt vor der Leistung meiner Mannschaft der vergangenen vier Jahre, Deutschen und Russen.

Ich danke den deutschen Einrichtungen hier in Russland, unseren Schulen, dem Goethe-Institut, unserer Außenhandelskammer für ein gutes, enges und vertrauensvolles Miteinander. Sie alle sind sehr geschrumpft – seit Kriegsbeginn.

Ebenso danke ich unserer Wirtschaft, die hier starke Produkte auf den Markt gebracht hat. Den karitativen Einrichtungen, die ich gerne unterstützt habe. Und auch den Korrespondenten deutscher Medien, die hier mutig zeigen, was Pressefreiheit wirklich bedeutet.

Mein großer Dank geht an meine Kollegen Botschafterinnen und Botschafter. In diesen so einzigartigen Zeiten war es so wichtig, sich vertrauensvoll auszutauschen. Ich habe viel von ihnen gelernt. Und danke besonders für vielen guten und klugen Rat, für Unterstützung und für Freundschaft. Unser ganz besonderes Miteinander in diesen Jahren in Moskau wird mir sehr kostbar bleiben.

Ich danke unseren vielen russischen Freunden in den ganz unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, im ganzen Land. Und ich beziehe ausdrücklich auch viele unserer Partner mit ein, die in diesen Jahren das Land verlassen haben – viele wohl gerade, weil sie ihr Land lieben.

Ich habe unseren Austausch sehr genossen, viel von ihnen gelernt – über das schöne Land, seine Kultur, sein Denken, seine Geschichte und auch über seine Gegenwart und auch über die Perspektiven seiner Zukunft.

Unsere deutsche Präsenz hier in Russland war immer ein Angebot zum Austausch und zum Dialog. Wir sollten so viel wie möglich davon bewahren und irgendwann, wenn sich die Umstände geändert haben, wiederaufleben lassen.

Und ich möchte ausdrücklich auch denjenigen Vertretern des offiziellen Russlands danken, die trotz aller Widrigkeiten meine Mitarbeiter und mich immer fair, zuvorkommend, sehr professionell und auch freundschaftlich behandelt haben. Ich weiß dies sehr zu schätzen.

Was kann ich noch sagen?

Vor allem: Die Diplomatie muss weitergehen, gerade hier in Moskau! Es ist wichtig, dass wir Diplomaten hier sind, dass wir zuhören und versuche zu verstehen. Und dass wir unsere Sicht der Dinge erklären.

Es ist wichtig, dass wir hier in Moskau sagen, wer aus unserer Sicht für was verantwortlich ist. Es ist wichtig, dass wir richtigstellen, wenn hier die Tatsachen verdreht werden, wenn entgegen allen Fakten auf einmal wir als die Aggressoren in diesem Krieg benannt werden und wenn absichtlich ein großer weltweiter System- und Kulturkonflikt herbeigeredet wird.

Es ist wichtig, dass wir unsere Sicht äußern über die Katastrophe, die politische, wirtschaftliche und moralische Tragödie, die dieser Krieg verursacht.

Es ist wichtig, dass wir als Diplomaten mit der Regierung des Landes in Kontakt bleiben, gerade, weil die Krise so tief ist und die Suche nach Frieden so schwierig.

Und es ist wichtig, dass wir den Menschen in diesem Land die Türen nicht von uns aus schließen, dass wir Räume für Dialog anbieten, dass wir manchen mit unserer Präsenz auch etwas Angst nehmen.

Es ist wichtig, dass verstanden wird: Was wir tun, ist das Gegenteil von Russophobie.

Was kann ich noch sagen?

In den vergangenen Tagen bin ich auch oft gefragt worden, ob ich nicht doch auch einen hoffnungsvollen Blick nach vorne habe. Wirklich optimistisch kann ich nicht sein. Aber ich will mit der Erinnerung an so manches antworten, das in den vergangenen vier Jahren hier stattgefunden hat:

Als ich 2019 kam, haben die SCORPIONS in Moskau ein großes Konzert gegeben. Ich konnte einige meiner Botschafter-Kollegen dazu einladen. Die Menschen haben laut mitgesungen – beim „Wind of Change“.

Vor zweieinhalb Jahren haben wir den Nachbau eines Stücks der Berliner Mauer für einen Monat im Gorki-Park aufgestellt. Darauf ist zu lesen: „The world is too small for walls”. Zehntausende Menschen haben sich davor fotografiert.

Vor gerade eineinhalb Jahren haben wir eine grandiose Ausstellung in Moskau eröffnet, haben Werke der bedeutendsten deutschen und russischen Maler der Romantik präsentiert. Also das kulturelle Miteinander über Jahrhunderte hinweg. Der Titel der Ausstellung, die von vielen Menschen besucht wurde, lautete „Träume von Freiheit“.

Die Erinnerung an all das kann uns Hoffnung geben auf eine irgendwann wieder bessere Zukunft.

Ich wünsche Ihnen alles Gute“.