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Weißrussischen Arbeitern wirft man Landesverrat vor


Abgeschlossen wurde die Untersuchung der Angelegenheit „Rabotschij Ruch“ (deutsch: „Arbeitsgeist“). Die Angeklagten sind Teilnehmer von Streiks. Die Materialien sind an die Staatsanwaltschaft übergeben worden, und in der nächsten Zeit werden sie an ein Gericht gehen. Die Handlungen der Rechtsschützer fielen mit dem 2. Jahrestag der brisantesten Phase der Konfrontation zwischen den Herrschenden und der Opposition zusammen. Am Mittwoch haben Untersuchungsbeamter Bericht über den Verlauf der Untersuchung von Strafverfahren erstattet, die mit den Ereignissen des Jahres 2020 zusammenhängen. Politologen sind der Auffassung, dass der Präsident gern „diese Seite umschlagen“ möchte. Die Opposition wählt eine Radikalisierung.

Das KGB von Gomel hat die Untersuchung des Strafverfahrens gegen die Formation „Rabotschij Ruch“ abgeschlossen. Darüber informierte man dieser Tage im Pressedienst der Institution. Den Angeklagten – zehn Mitglieder der Streikbewegung und Beschäftigte führender Unternehmen – lastet man Verleumdung, Staatsverrat, die Bildung einer extremistischen Formation und die Beteiligung an ihr an. Der schwerste Artikel ist „Staatsverrat“. Er sieht bis zu 15 Jahren Freiheitsentzug vor.

Der KGB-Pressedienst teilt mit: „Im Verlauf der Voruntersuchungen ist ermittelt worden, dass die Teilnehmer der genannten Formation neben der Verübung von Verbrechen extremistischer Ausrichtung eine widerrechtliche Tätigkeit zur Sammlung und späteren Übergabe von Dienstinformationen eingeschränkten Charakters in Bezug auf Wirtschaftssubjekte der Republik Belarus an einen ausländischen Staat, eine ausländische Organisation und deren Vertreter (darunter an Geheimdienste der USA und Litauens) durchgeführt haben, die unmittelbar die von ihnen getroffenen Maßnahmen zur Umgehung von restriktiven Maßnahmen (Sanktionen), aber auch Varianten für ein Entgegenwirken gegen solche Methoden betreffen“. Die KGB-Mitbearbeiter behaupten, dass die Angeklagten eine Blockierung der Produktion der OAO „Grodno Azot“ (eine Düngemittelbetrieb – Anmerkung der Redaktion) und der OAO „BMZ“ – UKCh „BMK“ (ein Betrieb der Metallurgie inkl. Verwaltungsunternehmen – Anmerkung der Redaktion) geplant hätten, um die Arbeit der Unternehmen zu stören und „deren Eigentum zu vernichten“. Die Materialien des Strafverfahrens sind an die Staatsanwaltschaft gesagt worden und werden in der nächsten Zeit an ein Gericht übergeben.

Vor einem Jahr, als die Ruch-Vertreter festgenommen wurden, hatte Alexander Lukaschenko deren schwerste Tat bekanntgegeben. Er erklärte, dass die Arbeiter „sich das Ziel stellen, den kollektiven Westen darüber zu informieren, wie Parchomtschik (der Industrieminister) mit Nasarow (ein Vizepremier) versuchen, die Sanktionen zu umgehen“. Gleichfalls hatte er da versprochen, dass die „Spione für lange hinter Gitter kommen werden“.

In diesen Tagen erinnert man sich wohl in Weißrussland an sich als auch im Ausland, in den Emigrantenkreisen der brisantesten Phase der Konfrontation des Jahres 2020. Dieses Datum zu begehen, hatte auch das Untersuchungskomitee beschlossen. Am Mittwoch teilte Sergej Pasko, Chef der Verwaltung des Untersuchungskomitees für Minsk, mit: „Die Untersuchungsbeamten leisten eine ununterbrochene Arbeit zur Ermittlung der Daten (Identifizierung) eines jeden Teilnehmers der Unruhen. Allein im letzten halben Jahr sind über 280 Personen festgenommen worden. Gegen 238 von ihnen sind bereits Anklagen erhoben und Sicherungsmaßnahmen in Form einer Inhaftierung ergriffen worden“.

Pasko führte eine Reihe von Beispielen angeblicher krimineller Taten an. Er teilte unter anderem mit: „Von der Idee einer Straßenschlacht hatte sich auch der 55jährige Nikolaj Koslow inspirieren lassen, ein Aktivist der Vereinigten Bürgerpartei, der gleichfalls eine Vertrauensperson der selbsterklärten Anführerin der Flüchtigen war. Im August des Jahres 2020 hatte er nicht nur aktiv an den Massenausschreitungen auf den Straßen von Minsk teilgenommen, sondern auch aktiv Bürger von Belarus für die niedrigen Ziele seiner Kuratoren ausgenutzt. Nikolaj Koslow lenkte eine radikal eingestellte Menge, gab den Protestierenden Anweisungen und rief dazu auf, Straßen zu blockieren und das Passieren von Technik zu verhindern. Früher hatte der Angeklagte mehrfach das Ordnungs- und das Strafrecht verletzt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist gegen den Mann Anklage gemäß Teil 1 des Artikels 342 des Strafgesetzbuches erhoben worden. Ihm gegenüber wurde als Sicherungsmaßnahme eine Inhaftierung angewandt“.

Derweil erinnert sich Lukaschenko selbst, der vor zwei Jahren öffentlich gar eine Maschinenpistole in die Hand genommen hatte, um seine Entschlossenheit zu demonstrieren, nicht an jene Ereignisse und ist demonstrativ auf rein wirtschaftliche Fragen konzentriert.

Der Politologe Valerij Karbalewitsch erklärt dieses Phänomen auf dem Internetportal „CH+“ so: „Die Offiziellen versuchen jetzt, „die Seite umzuschlagen“, zurückzukehren, ein ideologisches Konstrukt unter der Bezeichnung „Stabilität“ zu regenerieren, das bis zum Jahr 2020 aktiv propagiert worden war“. Der Experte beschreibt das Verhalten und die Strategie von Lukaschenko so: „Er taucht jeden Tag auf dem Informationsbildschirm der Nachrichten auf, wobei er sich mit Routinemäßigem befasst. Er überprüft den Verlauf der Erntekampagne, die Fertigung von Motor- und Fahrrädern, befasst sich mit der Saatzucht, dem Gartenbau, dem Bau von Wohnraum auf dem Lande usw. Das heißt, er nimmt eine Führungstätigkeit vor Ort im manuellen Regime vor. Anders gesagt: Er zeigt mit allen Kräften, dass jegliche politischen Probleme verschwunden seien, das Land zur „vorrevolutionären“ Stabilität zurückkehre“.

Derweil hat sich in der Opposition in den zwei vergangenen Jahren ein Ruck in Richtung einer Radikalisierung vollzogen. Auf dem Internetportal „Salidarnasz“ (deutsch: „Solidarität“) ist eine Analyse der Situation von dem Politologen Artjom Schraibman gepostet worden. Der Experte betont: „Es ist eine wichtige Zäsur aufgetaucht, die die demokratischen Kräfte zwei Jahre nach Beginn der Proteste passiert haben. Sie besteht darin, dass zumindest auf der Ebene der Führung – von Swetlana Tichanowskaja und ihren neuen Ministern – eine klare Akzeptanz der Normalität der gewaltsamen Methoden besteht. Vor zwei Jahren war dies absolut unangebracht. Man durfte sich nicht für gewaltsame Methoden aussprechen. Und die Anführer hatten sich mit allen möglichen Mitteln von jeglichen gewaltsamen Aktionen distanziert. Heute aber, wenn irgendwer offen von Positionen „ich bin für einen friedlichen Protest, Gewalt ist nicht unser Weg“ aus auftreten würde, würde man ihn wahrscheinlich auspfeifen“.

Der Analytiker konstatiert: „Und dies ist, wie mir scheint, auch ein konzeptueller Tod des friedlichen Protests. Dies bedeutet nicht, dass alle Weißrussen einen friedlichen Protest oder diesen Gedanken aufgegeben haben. Dies bedeutet, dass für diesen Gedanken öffentlich und praktisch keine Anwälte mehr geblieben sind“.