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Weißrussland: ein Jahr nach den Protesten


Im Sommer und Herbst vergangenen Jahres ereigneten sich in Weißrussland die größten Massenproteste in der Landesgeschichte. Das weißrussische Volk versuchte, sich das Recht zurückzuholen, ein Subjekt der Politik zu sein. Ungeachtet dessen, dass die Herrschenden die Proteste niederzuschlagen vermochten, haben diese auf das gesamte gesellschaftspolitische Leben des Landes einen gewaltigen Einfluss ausgeübt.

Das vergangene Jahr hat auf überzeugende Weise gezeigt, dass das weißrussische soziale Modell, welches von Alexander Lukaschenko vor einem Vierteljahrhundert geschaffen worden war, ein sackgassenartiges ist. Es hat seine Ressourcen ausgeschöpft und ist zu einer Entwicklungsbremse für das Land geworden. Dieses Modell ist nicht imstande, sich an die veränderten Bedingungen anzupassen, und ist ausschließlich nur für ein Halten der Macht durch eine Konservierung des sozialen Status quo bestimmt.

Der sozial-politische Prozess, der im Sommer des Jahres 2020 begann, ist nicht zu Ende, er ist eher auf eine Pause gestellt worden. Die politische Krise ist nicht gelöst worden, sie ist in die Tiefe verdrängt worden und verwandelt sich in eine permanente. Es ist unmöglich, diese Krise im Rahmen des existierenden politischen Regimes zu überwinden, denn sie kann nicht mit gewaltsamen Methoden gelöst werden. Andere Formen erkennen aber die Herrschenden nicht an.

Die weißrussische Gesellschaft wird nicht mehr die frühere sein. In einen angenommenen Mai des Jahres 2020 zurückzukehren, ist bereits unmöglich. Dies betrifft sowohl die Herrschenden als auch die Gesellschaft.

Ein autoritäres Regime muss, um zu überleben, bei Bedarf härter und undemokratischer als zuvor werden. Es ist gezwungen, sich hinsichtlich der inneren und äußeren Gegner in einer militanten, einer Kampfpose zu befinden. Die Offiziellen konzentrieren sich ausschließlich auf die Lösungen der Probleme des Überlebens, befinden sich in einer ständigen Anspannung und daher nicht in der Lage, andere Probleme und aktuelle Aufgaben, die vor dem Land stehen, zu lösen.

Verändert hat sich auch die Gesellschaft. Obgleich die Infrastruktur des Protests (Chats u. a.), und die Organisationen der Zivilgesellschaft durch das Regime methodisch vernichtet werden, sind die erworbenen Erfahrungen aus den gemeinsamen Aktionen, der Solidarität und der spontanen Selbstorganisation aber nirgendwohin verschwunden. Zugenommen hat das aufgeschobene Bedürfnis nach Demokratie, einem Rechtsstaat und einem zivilen Frieden.

Bestätigt hat sich die Annahme, dass das weißrussische Regime ein absolut rigides und nicht zu einer Veränderung und zu einer Erweiterung seiner sozialen Basis fähig ist. In der Zeit der Krise hat das Regime aufgehört, ein populistisches zu sein, wobei es die Versuche aufgegeben hat, ein gegenseitiges Einvernehmen mit der Gesellschaft zu suchen. Offenbart hat sich dessen organische Unfähigkeit hinsichtlich einer positiven Agenda. Die Herrschenden haben keinerlei Narrativ für die Zukunft und sogar kein Begreifen dessen Notwendigkeit.

Es erfolgt ein beschleunigter Prozess einer De-Sakralisierung der Offiziellen. Die Bevölkerungsmehrheit begreift den Staat, der den Mechanismus der Repressalien auf eine volle Leistung hochgefahren hat, als eine Gefahr, als eine Bedrohung für die Gesellschaft.

Der Preis für das Festhalten Lukaschenkos an der Macht hat sich für Weißrussland bereits als ein sehr hoher erwiesen und steigt weiterhin, vor allem durch die Verstärkung der Wirtschaftssanktionen und der internationalen Isolierung.

Im Kampf des Regimes gegen die Proteste ist es zu einem teilweisen Default der Staatsfunktionen gekommen. Das heißt: Die staatlichen Einrichtungen haben aufgehört, ihre Pflichten zu erfüllen. Faktisch wird die Außenpolitik Weißrusslands zerstört. Das Land ist in eine völlige Isolierung geraten, verliert seinen Charakter als ein internationales Subjekt. Vollkommen zerstört wurden das Rechtssystem und die Institute der Rechtsprechung, ohne die die Existenz eines vollwertigen modernen Staates unmöglich ist. Jetzt stellte sich heraus, dass der Staat nicht imstande ist, die Funktion des Schutzes der Grenzen wahrzunehmen, indem er Migranten aus dem Nahen Osten die völlige Freiheit gewährte, sie zu überwinden.

Die staatlichen Institute, die dazu berufen sind, die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen, orientieren sich auf eine Selbstbedienung um, auf eine Verteidigung der eigenen Interessen vor den Ansprüchen seitens der Gesellschaft. Es hat sich eine Reduktion des Staates bis auf ein politisches Regime vollzogen.

Nach der teilweisen Reduktion des Staates bis auf ein politisches Regime versuchen die Herrschenden, ein Eindampfen der Gesellschaft bis auf ein relativ kleines Konglomerat ihrer Anhänger vorzunehmen. Das heißt: Für Bürger, für das Volk halten sie nur jene Menschen, die Lukaschenko unterstützen. Alle, die gegen das Regime sind, werden automatisch zu den Feinden gerechnet, zu westlichen Agenten. Ihnen werden die Etiketten „Extremisten“, „Terroristen“ und „Nazis“ verpasst. Liquidiert wird das legale Feld für Handlungen und Aktionen der Opposition und der Zivilgesellschaft. Die Gegner Lukaschenkos sind faktisch in den Rechten eingeschränkt worden. Die Gesetze gelten nicht für sie. Diese Menschen kann man nicht nur hinter Gitter bringen, schlagen, Folterungen aussetzen und nicht auf das Territorium Weißrusslands lassen, sondern sogar ungestraft umbringen. Jetzt wird dies in Weißrussland nicht als ein Verbrechen angesehen.

Durch die umfangreichen „Säuberungen“ und die „Befreiung“ von Nichtloyalen vollzog sich eine Konsolidierung des Regimes. Es ist zu einem monolithischerem geworden. Dies verstärkt es in der kurzfristigen Perspektive. Gleichzeitig verschlechtert sich aber infolgedessen die Fähigkeit der Herrschenden, adäquat auf Herausforderungen zu reagieren. Abgeschaltet wird das System zur Unterbindung von Fehlern. Dementsprechend nimmt die Zahl der „Selbsttore“ zu, das heißt der Handlungen zum eigenen Schaden. Und das Wichtigste, es verschlechtert sich die Möglichkeit für ein legales Herauskommen aus der Sackgasse.

Die vorangegangenen zwanzig Jahre verfolgten die Offiziellen eine Politik der Demobilisierung und Entpolitisierung der Gesellschaft. Das Regime hatte sich dank der Apathie, dem Unpolitisch-sein und der Nichtbeteiligung der Menschen gehalten. Nunmehr hat sich alles radikal verändert. Das letzte Jahr haben die Herrschenden Kurs auf eine politische Mobilisierung genommen. Mit Hilfe des Staatsapparates und der staatlichen Massenmedien wird eine künstliche Politisierung der Gesellschaft vorgenommen. In den Belegschaften zwingt man die Menschen, unterschiedliche Petitionen zur Unterstützung des Regimes zu unterschreiben. Dieser Politik aus dem Weg zu gehen, ist unmöglich geworden, was den Trend zu einer Totalitarisierung der Gesellschaft bedeutet.

In den ersten Monaten der weißrussischen Proteste dominierte die Ansicht, dass sie keinen geopolitischen Kontext in dem Sinne hätten, dass sie keine prowestlichen und keine prorussischen seinen, dass sie ein rein innerer Konflikt seien. Aber innerhalb eines Jahres hat sich die Situation stark verändert. Der Westen unterstützt das Streben der weißrussischen Gesellschaft nach demokratischen Veränderungen. Russland leistet aber dem herrschenden Regime aktive Hilfe. Der weißrussische Konflikt hat eine geopolitische Dimension einfach aufgrund der Logik des politischen Prozesses erlangt.

Die weißrussische politische Krise ufert zu einer regionalen aus. Das ungelöste innerweißrussische Problem und selbst seine Zuspitzung wirken sich außerhalb Weißrusslands aus, indem ein Problem für die regionale und internationale Sicherheit insgesamt geschaffen wird. Als Beispiel kann man die Migrantenkrise an der weißrussisch-polnischen und weißrussisch-litauischen Grenze anführen. Dies ist bereits nicht bloß eine innere humanitäre Frage eines Landes. Wobei die Spirale der Konfrontation mit dem Westen immer stärker in Gang gesetzt wird.