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Weißrusslands neue Realität – Angst und zunehmende Gereiztheit in der Gesellschaft


„Derzeit kann man in Weißrussland nicht nur die Freiheit verlieren, sondern auch des Lebens beraubt werden“, schrieb die weißrussische Mehrkämpferin Jana Maximowa auf Instagram. Und teilte mit, dass sie und ihr Ehemann, der Zehnkämpfer Andrej Krawtschenko, beschlossen hätten, nicht nach Weißrussland zurückzukehren und in Deutschland zu bleiben. Die weißrussischen Sportler haben solch eine Entscheidung nach den Nachrichten aus Tokio, wo die Leichtathletin Kristina Timanowskaja um politisches Asyl in westlichen Ländern gebeten hatte, und aus Kiew, wo man in einem Park den Vorsitzenden des „Weißrussischen Hauses in der Ukraine“ Vitalij Schischow erhängt gefunden hatte, getroffen.

Timanowskaja hatte bekanntlich in Tokio während der Olympiade den Trainerstab kritisiert, der das Mädchen „hinter ihrem Rücken“ in die Startmeldung für die 4×400-Meter-Staffel aufgenommen hatte. Die Athletin war nie auf solch einer Strecke an den Start gegangen und empörte sich, dass keiner nach ihrer Meinung gefragt hatte. Das Nationale Olympische Komitee Weißrusslands beschloss, das Mädchen von den Wettbewerben zu suspendieren und nach Minsk zu bringen. Sie aber wandte sich an japanische Polizeibeamte mit der Bitte um Schutz und danach an das Internationale Olympische Komitee. Polen stellte ihr ein humanitäres Visum aus, das der Sportlerin erlaubt, in diesem Land zu leben und zu arbeiten. Der Ehemann von Timanowskaja – Arsenij Sdanjewitsch – verließ sofort Minsk und reiste nach Kiew, wobei er Kommentare ablehnte.

In dieser Zeit wurde in der Hauptstadt der Ukraine Vitalij Schischow ermordet. Kollegen Schischows erklärte, dass man ihn beschattet hätte. Im „Weißrussischen Haus“ hält man die Tötung Schischows für eine „von den Tschekisten geplante Operation zur Liquidierung eines für das Regime wirklich gefährlichen Weißrussen“. In der EU forderte man eine für die Öffentlichkeit offene Aufklärung des Todes des weißrussischen Aktivisten. „Ich rufe die Behörden Kiews auf, die Sache aufzuklären und ihre Schlussfolgerungen vorzulegen. Es ist unzulässig, dass weißrussische Sportler und gesellschaftliche Organisationen weiter in Angst leben“, erklärte Dänemarks Außenminister Jeppe Kofod. Sein lettischer Kollege Edgars Rinkēvičs bezeichnete die Nachricht vom Tod Schischows als eine schockierende.

In Weißrussland hat sich die auch so durch die Repressalien gegen die Teilnehmer der Proteste belastete Situation noch mehr aufgeheizt.

Das Team der Anführerin der Proteste Swetlana Tichanowskaja, das in Litauen tätig ist, forderte, die Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und seine Nahestehenden zu verstärken. Wie die Statistik belegt, haben sich jedoch die Sanktionen, die früher verhängt wurden, dank der Hilfe Russlands nicht auf die Wirtschaft Weißrusslands ausgewirkt. Wahrscheinlich werden sie auch keine neue Welle von Protesten auslösen, da die weißrussischen Herrschenden dafür alle Maßnahmen ergriffen haben und sie im Vorfeld des Referendums über die Annahme der neuen Landesverfassung, die einen Machttransit vorsieht, noch verstärken können.

Geplant ist, zum höchsten Organ die Gesamtweißrussische Volksversammlung (GWVV) zu machen, die den Präsidenten, das Parlament und die Regierung kontrollieren wird. Lukaschenko könnte, meinen einheimische Experten, bei einem wohlbehaltenen Ausgang des Referendums durchaus die Leitung der GWVV übernehmen. Denn die derzeitigen weißrussischen Herrschenden werden keinerlei Störungen in den Plänen ihrer Reformierung zulassen. Und man wird keinerlei Sportlern und ihren Ehepartnern, die nach Aussagen Lukaschenkos „herumsitzen und auf diesen IPhones herumtippen … und alle für die WRW (weiß-rot-weiße Flagge, unter der die Opposition auftritt – „NG“) … aufgrund Müßiggang sind“, erlauben, den Herrschenden die Karten durcheinanderzubringen. Zumal, wie der weißrussische Politologe Alexej Dsermant betonte, die endgültige Entscheidung darüber, was für ein Text zum Referendum vorgelegt wird, der Präsident des Landes treffen werde. Das Ziel der Reform ist doch, Platz für einen eigenen Mann – einen zuverlässigen Nachfolger – zu machen.

Weißrussland verändert sich. Die Glückseligkeit und Selbstzufriedenheit, die das letzte Jahrzehnt von Minsk ausgingen, sind vorbei. Alexander Lukaschenko verwandelte sich aus dem Batka, dem Väterchen, in ein Symbol der Autokratie und Brutalität gegenüber Andersdenkenden und Protestierenden. Gereiztheit und Nervosität sind die Wesenszüge der neuen Realität in der Republik Belarus, wo sich das Leben geteilt hat — in eines „vor“ und eines „nach“ dem August des Jahres 2020, der Zeit des Beginns der Proteste und ihrer brutalen Niederschlagung.