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Welche Fragen wird der Präsident wohl nicht beantworten?


Anfang Juni wandten sich die Bewohner des Dorfs Werchnij Karbusch im sibirischen Verwaltungsgebiet Omsk mit einer Videobotschaft an Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie baten um Hilfe beim Asphaltieren einer Dorfstraße. Aus Berlin kam die Antwort, dass dies Sache der örtlichen Behörden sei. Mit einer Videobotschaft versuchen auch Einwohner der Ortschaft Iskra im Gebiet Jaroslawl, die Lösung eines ihrer drängendsten Probleme zu erreichen. Sie bitten Präsident Wladimir Putin um eine neue Schule, da die bisherige alte zu klein und baufällig sei. Für viele Bürger des Landes ist das russische Staatsoberhaupt zur letzten Anlaufstelle für ihre Sorgen und Bitten geworden, da es keine Hoffnungen mehr auf die örtlichen Behörden gibt. Dies belegt auch die Zahl der Fragen, die zur Jubiläumsbürgersprechstunde Putins eingegangen sind. Weniger als 20 Stunden vor dem Online-Treffen des Präsidenten waren es bereits mehr als 700.000, und Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des Staatsoberhauptes, rechnet im Verlauf der Veranstaltung am Mittwoch, dass es insgesamt mehr als eine Million werden.

Zum 20. Mal ist Wladimir Putin bereit, mehrere Stunden lang Rede und Antwort zu stehen – nicht Journalisten, sondern einfachen Mitbürgern, obgleich Kritiker meinen, die Auswahl der Fragen sei eine gelenkte. Vor dem Hintergrund der aktuellen angespannten Situation in Russland bleiben sicherlich viele Fragen unbeantwortet. Nicht ohne Grund (einmal abgesehen vom Zeitfaktor), denn sie sind sowohl unbequeme als auch unter der Last der Alltagsprobleme in den Hintergrund gerückt.

Der Präsident wird um das Thema des Kampfes gegen das Coronavirus keinen Bogen machen, da in den letzten Tagen die Zahl der neuen Fälle eine zweistellige ist. Mit Sicherheit wird er auf die Notwendigkeit einer Vakzinierung hinweisen, Russland habe ja gleich vier registrierte Impfstoffe. Doch wird er auf die Zweifel ihnen gegenüber eingehen, wird er auf die widersprüchlichen Zahlen in der Todesstatistik und generell der COVID-Statistik im Land reagieren und wird er die sich allmählich abzeichnende Diskriminierung von Nichtgeimpften rechtfertigen, obgleich er doch selbst mehrfach auf das Prinzip der Freiwilligkeit hinwies? Gegner der in über zwanzig Regionen angeordneten obligatorischen Corona-Impfungen für bestimmten Berufsgruppen haben inzwischen über 150.000 Unterschriften dagegen gesammelt. Freilich ist damit zu rechnen, dass in der Bürgersprechstunde dazu keine Antworten kommen werden. Sicher sind das die Realitäten des Tages. Aber das Virus ist gefährlicher geworden. Und da muss man vorausschauend handeln und entsprechende informationsseitige Maßnahmen ergreifen, um später nicht die Folgen einer solchen zweifelhafte Politik zu tragen. Das Coronavirus wird zum Thema Nummer 1 bei diesem Meinungsaustausch mit den Wählern.

Eine ähnliche Situation ist gleichfalls für die Fragen zur Wirtschaft und zum sozialen Bereich zu erwarten. Die offiziellen Inflationszahlen unterscheiden sich spürbar von der, die die Bürger Russlands tagtäglich erleben. Ein Blick in den Warenkorb und den entsprechenden Kassenbon belegt, dass der Anstieg der Preis mehr als 9 Prozent auf das Jahr ausmacht. Die kommunalen Dienstleistungen werden ab 1. Juli erneut um mehr als 4,5 Prozent steigen. Man kann fragen, warum wirken sich die gewonnenen Gewinne aus dem Gasverkauf nicht auf die Inlandspreise für das Gas aus? Vielleich werden solche Fragen auch gestellt. Aber man darf nicht vergessen, dass die Gaswirtschaft im Inland schon lange unrentabel ist, denn die Gaspreise für die Bevölkerung sind vom Staat reguliert.

Wladimir Putin weiß, wie man dieser Frage aus dem Weg gehen kann, indem er betont, dass in allen Regionen ein Programm zum kostenlosen Anschluss der Haushalte an eine zentrale Gasversorgung umgesetzt wird. Aber erst ab 1. Januar nächsten Jahres. Dies ist Zukunftsmusik, von der die Landesbevölkerung schon sehr viel in anderen Zusammenhängen gehört hat. Beispielsweise auch in Bezug auf die Bekämpfung der Armut. 13,3 Prozent der Russen leben derzeit unterhalb der Armutsgrenze. Dies sind konkret mehr als 19 Millionen Menschen. Im Jahr 2008 hatte Wladimir Putin jedoch noch erklärt, dass die absolute Armut im Land bis zum Jahr 2020 auf sechs bis sieben Prozent gesenkt werden soll. Ähnliche Ankündigungen sind von vielen Russen bereits vergessen worden.

Russland bereitet sich auf die Wahlen im September vor, gewählt werden neue Abgeordnete für die Staatsduma, das Unterhaus des Landesparlaments, aber auch für mehrere Regionalparlamente. Dabei können potenziell neun Millionen Bürger nicht vollkommen ihr Wahlrecht nutzen, wie eine Untersuchung der Bewegung „Golos“ ermittelte. Dazu hat Präsident Putin entsprechende Gesetze unterschrieben. Unter ihnen eins, das sogar rückwirkend zum Einsatz kommen soll, wenn es darum geht, Anhänger von Alexej Nawalny nicht kandidieren zu lassen. Da stellt sich die Frage, ob das Staatsoberhaupt, der ein Jura-Studium in seiner Heimatstadt absolviert hatte, den Verfassungsartikel 54 vergessen hat oder einfach ignoriert. Da heißt es, dass keiner für eine Tat Verantwortung tragen kann, wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Vornahme nicht als eine Rechtsverletzung anerkannt wurde. In der Bürgerfragestunde mit Sicherheit kein Thema. Genauso auch die Einschränkung der Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts. Wladimir Putin stand mit hinter einem Gesetz, dass dieses Gremium vom Oberhaus des Parlaments und dem Präsidenten abhängig machte, denn die Kandidaten für das Amt eines Verfassungsrichters werden durch ihn vorgeschlagen. Dafür wird am Mittwoch betont werden, wie wichtig eine Teilnahme an den Wahlen sei. Ohne die Einmischung von anderen Staaten.

Apropos Wahlen. Was geschieht mit den Bürgern, die im Donbass leben und einen russischen Pass erhalten haben? Laut Angaben des russischen Innenministeriums vom Mai dieses Jahres haben seit dem entsprechenden Präsidentenerlass über 527.000 Menschen dort die Staatsbürgerschaft Russlands erhalten? Werden sie also an den Wahlen im September teilnehmen? Von Wladimir Putin wird es wohl zu dieser Frage keine Antwort geben, obgleich die Wahlberechtigten aus den nicht von Kiew kontrollierten Gebieten im Südosten der Ukraine ein Reservoir von Stimmen gerade für die Parteien „Einiges Russland“ und „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ wären. Außenpolitische Themen sind bei den Bürgersprechstunden des Präsidenten selten die vorrangigen, obgleich auch in diesem Jahr durchaus gerechtfertigte. Dies gilt unter anderem für solche Aspekte wie Weißrussland (was kostet Moskau die Unterstützung für Präsident Lukaschenko) und die Sanktionen des Westens gegen Russland (wie wirken sich diese auf die Geldbörsen der einfachen Russen aus).

Mit Sicherheit wird die Bürgersprechstunde von Wladimir Putin wie im Fluge vergehen. Ob es einen neuen Langzeitrekord geben wird – der bisherige stammt von 2013, als der Präsident vier Stunden und 47 Minuten lang Fragen der Bevölkerung beantwortete -, ist nicht zu erwarten. Überdies sind am gleichen Tag Begegnungen mit Nursultan Nasarbajew und Judokas, die Russland bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio vertreten werden, auf dem Terminplan des russischen Staatsoberhauptes. Umfragen des staatlichen Meinungsforschungszentrums VTsIOM haben aber im Vorfeld ergeben, dass 47 Prozent der Befragten den Live-Auftritt des Präsidenten entweder im staatlichen Fernsehen oder Rundfunk komplett oder teilweise verfolgen wollen. 39 Prozent verzichten darauf.