- Am 17. März hat der Internationale Strafgerichtshof (IStG) einen Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin und der Kinder-Ombudsfrau beim Präsidenten, Maria Lwowa-Belowa, erlassen. Darin wird erklärt, dass sie angeblich an „Kriegsverbrechen, die in einer illegalen Deportation der Bevölkerung bestehen“, darunter von Kindern, und deren widerrechtlichen Überführung nach Russland beteiligt gewesen sein könnten. Die Reaktion der russischen Seite war nicht unbedingt eine ruhig-negative. Die offizielle Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa, und der Pressesekretär des Präsidenten, Dmitrij Peskow, erklärten, dass Russland kein Teilnehmer des Römischen Statuts des IStG sei, dementsprechend keine Pflichten habe und mit ihm nicht zusammenarbeite. Am Montag nahm die Geschichte eine makabre Wende, da das Nationale Ermittlungskomitee nun im Gegenzug ein Strafverfahren gegen die Richter des Internationalen Strafgerichtshofes Karim Ahmad Khan, Tomoko Akane, Rosario Salvatore Aitala und Sergio Gerardo Ugalde Godinez einleitete.
Die Gefahr für Russland darf jedoch nicht unterschätzt werden. In den vergangenen 30 Jahren haben die USA und die EU-Länder eine Reform des internationalen humanitären Rechts in einer für sich vorteilhaften Art durchgeführt. Sie bestand aus drei Komponenten. Die erste ist die Schaffung einer Serie von alles möglichen internationalen Tribunalen zur Aufklärung von Kriegsverbrechen in Konflikten in der Art des Konflikts des einstigen Jugoslawiens oder Ruandas. Die zweite ist die Durchführung von Gerichtsprozessen gegen Spitzenvertreter souveräner Staaten, damit sich nicht einer (selbst der am meisten proamerikanische) in Sicherheit wiegt. Die dritte ist die Verhängung personengebundener Sanktionen gegen Spitzenvertreter und Beamter unterschiedlicher Länder, um die Möglichkeit zu erhalten, deren Festnahme zu jeglicher Zeit und an jeglichem Ort vorzunehmen.
Russland war von Anfang an von der G-7 als ein Objekt für die Anwendung eines derartigen Systems erklärt worden. Bereits 1995 hatte man in den EU-Länder begonnen, von der Möglichkeit der Organisierung eines internationalen Tribunals zur Aufklärung der „humanitären Katastrophe“ in Tschetschenien zu sprechen. Bis zum Jahr 2000 hatte das Thema der Verurteilung Russlands aufgrund der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien die Ebene von Resolutionen europäischer Strukturen und der NATO erreicht. Nach dem Georgien-Krieg von 2008 hatte man in den USA noch ein Jahr lang die Fragen nach der Organisierung eines internationalen Tribunals mal hinsichtlich der „russischen Verbrechen“ in Georgien oder mal aufgrund des „Genozids“ in Bezug auf die Tscherkessen oder Adyger im 19. Jahrhundert aufgeworfen. Nun, und in der Zeit der russischen Operation in Syrien erklangen Appelle, die „Kriegsverbrechen“ aufzuklären, bereits auf der Ebene des US-Außenministeriums, des Europaparlaments, des Europarates und der Liga der arabischen Staaten.
Zur gleichen Zeit fingen die USA und teilweise die EU-Länder an, die Praxis einer Verurteilung russischer Geschäftsleute wegen Korruption und „Finanzverbrechen“ einzuführen. Auf der Welle der Privatisierung der 1990er spendeten viele in unserem Land diesen Handlungen des Westens Beifall. Aber das angelsächsische Recht ist ein Präzedenzrecht. Wenn man dies mit halbkriminellen Menschen (oder mit denjenigen, die als solche erklärt wurden) tun kann, so wird man dies morgen mit jedem x-beliebigen aus den Reihen der Vertreter des Business tun können, und übermorgen – mit irgendwem von den Staatsbeamten. Der Borodin-Fall war dazu bestimmt gewesen, zu belegen, dass jeder beliebige hochrangige russische Beamte festgenommen werden kann.
In Russland hatte man sich oft damit getröstet, dass dies entweder dem Wahlkampf in den USA oder den Interessen der Business-Eliten geschuldet sei. Oder das „russische Thema wurde zu einem Teil der Innenpolitik in Amerika“. Die Amerikaner machten aber aus ihrem strategischen Ziel keinen Hehl – die Festnahme des russischen Präsidenten oder Premiers, die Durchführung eines internationalen Prozesses gegen ihn mit dem gleichzeitigen Aufwerfen der Frage nach dem Recht Russlands, Kernwaffen zu besitzen und ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates zu sein.
Der nunmehrige Schritt des Internationalen Strafgerichtshofes ist lediglich ein weiterer Testballon für die Realisierung dieses Ziels. Der Haftbefehl des IStG verfolgt mehrere Ziele. Er soll dem Kreml zeigen: Wenn wir wollen, veranstalten wir einen Gerichtsprozess. Er schafft die Möglichkeit, für die Ausübung von Druck auf die russische Regierung. Man kann sie überall als „Komplizen“ verhaften. Er ist dazu bestimmt, die Reisemöglichkeiten der russischen Elite einzuschränken: „Überlegen Sie es sich, ob Sie fahren, wenn man Sie verhaften kann“. Und das Wichtigste: Der Haftbefehl soll die Angreifbarkeit des russischen Präsidenten demonstrieren, wenn er zwecks eines Besuchs in ein anderes Land reist und wenn sich in der Zukunft ein Machtwechsel in der Russischen Föderation vollzieht.
Es gibt auch eine andere Komponente in solch einer Strategie. Das Ziel der USA und ihrer Verbündeten ist, zu zeigen, dass sie Russlands Präsidenten in einer Reihe mit den „problematischen“ Staatschefs in der Art von Baschar al-Assad und Robert Mugabe wahrnehmen. Im schlimmsten Fall – in der Art von Saddam al-Hussein oder Slobodan Milosevic. Der Westen möchte demonstrieren, dass der Präsident Russlands für ihr Rechtssystem angreifbar ist, die westlichen Staatschefs für das russische aber nicht. Folglich ist auch der Status von Russland als ein anfälliger Staat nicht mit ihrem Status vergleichbar, dem der Länder, die entscheiden, gegen wen ein internationaler Prozess durchzuführen ist. Schließlich träumen die Amerikaner schon lange, und in den letzten zehn Jahren auch die Franzosen, von einer Vertreibung Russlands aus dem UN-Sicherheitsrat. Szenarios für einen Ausschluss wurden etwa seit 1995 ausgearbeitet. Eine populäre Variante war die historisch-politische. Dabei werden der Stalinismus und Nazismus gleichgestellt, und es wird auf völkerrechtlicher Ebene die These von der gleichen Schuld Deutschlands und der UdSSR am Zweiten Weltkrieg fixiert. Zugelassen wurde auch die Variante von einer „neuen Dekommunisierung“ Russlands mit dem Aufwerfen der Frage danach, was die Russische Föderation im Sicherheitsrat mache, wenn sie kein Rechtsnachfolger der UdSSR ist.
Wir sind oft dazu geneigt, ein derartiges Szenario für eine „humanitäre Aggression“ zu unterschätzen. Aber das Argument „das kann nicht sein, weil es nie sein kann“ ist gefährlich. Man stellesich einmal das Szenario vor: Mehrere hochrangige Beamte Russlands sind in gewissen Ländern verhaftet worden, drei ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates (die USA, Großbritannien und Frankreich) votieren für eine Aussetzung der Mitgliedschaft Russlands, und die Volksrepublik China hat sich der Stimme enthalten, wobei es beispielsweise von „wirtschaftlichen Interessen“ ausgeht. Ungeachtet aller Empörung lehnen es die USA ab, russischen Diplomaten Visa zu erteilen. Bei der Tagung der Vollversammlung der Vereinten Nationenwerden beispielsweise zwei Resolutionen zur Abstimmung gebracht: „Über die gleiche Verantwortung des Kommunismus und Nazismus für die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges“ und „Über eine zeitweilige Suspendierung der Mitgliedschaft Russlands im UNO-Sicherheitsrat bis zum Abschluss der Untersuchung“. Verweise auf das Recht helfen hier nicht. Die USA sind in der Lage, russischen Diplomaten Visa unter Verweis auf die Zustimmung, die Beschlüsse der UN-Vollversammlung zu erfüllen, zu verweigern.
Dieses negative Szenario ist eines von wenigen, das unser Land in der nahen Zukunft erwarten kann. Schon jetzt muss man beginnen, sich auf dessen Abwehr vorzubereiten. Und im Grunde genommen hätte man dies beginnend ab 209 tun müssen. Zur Hauptkomponente der Vorbereitung muss die Aufgabe des Gorbatschow-Prinzips von der Priorität des internationalen Rechts hinsichtlich des russischen durch Russland werden. (Die USA sind ein klassisches Beispiel für ein Land, das die Priorität des Inlandsrechts über dem internationalen postuliert.) Die Versuche, die Prioritäten des internationalen Rechts in irgendwelchen Bereichen zu bewahren, führen lediglich zur Schaffung eines Vorlaufs für eine Offensive gegen Russland in dieser Sphäre. Darauf zu hoffen, dass der Westen einen „kühlen Kopf bekommt“, hat keinen Sinn.