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Welche traditionellen Werte braucht Russland?


Das laufende Jahr ist in der Russischen Föderation zum Jahr der Familie erklärt worden. Und vor anderthalb Jahren unterzeichnete Präsident Putin einen Erlass, der die Grundlagen für die Staatspolitik zur Bewahrung und Verstärkung der traditionellen russischen geistig-moralischen Werte bestätigte. Wie sehen aber die Angelegenheiten heute in dieser Richtung aus? Wie üblich: Ein Begreifen dessen, was die Familien brauchen und was denn solche Werte sind, liegt augenscheinlich selbst bei den eifrigsten Verfechtern nicht vor.

Der Abgeordnete der Staatsduma (das russische Unterhaus – Anmerkung der Redaktion), der Volkskünstler Russlands Nikolaj Burljajew (Mitglied der Fraktion der Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ – Anmerkung der Redaktion), unterbreitete den Vorschlag, ins Schulprogramm Unterrichtsstunden für Keuschheit aufzunehmen. „Man muss den Mädchen ein Begreifen dessen vermitteln, dass das Lebensziel und die Berufung einer Frau von Gott sein – eine Hüterin des häuslichen Herdes zu sein und entsprechend den Kräften dem Ehemann eine hörige zu sein“, erläuterte der 77jährige Parlamentarier. „Und den Jungen muss man beibringen, dass sie Verteidiger der Heimat, ihrer Familie und der Frau, die sie behüten müssen, sind. Man muss ihnen Achtung gegenüber der Frau und der Keuschheit vermitteln“. Ob es einen Bedarf für solche Unterrichtsstunden gibt, ist eine andere Frage. Nikolaj Burljajew ist überhaupt als ein leidenschaftlicher Verteidiger der orthodoxen Werte bekannt. Dabei ist der bemerkenswerte Schauspieler das dritte Mal verheiratet, wofür er ein volles Recht hat. In diesem Fall aber sieht sein Moralisieren etwas merkwürdig aus. Heutige Schülerinnen nutzen aktiv das Internet und werden unbedingt prüfen, wer denn sie da zu Keuschheit aufruft.

Und noch ein markantes Beispiel – die Situation um eine volljährige Bürgerin der Russischen Föderation, die in einer der nordkaukasischen Republiken die Familie verließ. Um der Flüchtigen aus einem Moskauer Polizeirevier habhaft zu werden und sie gewaltsam den Verwandten zurückzuführen, waren unter anderem Abgeordnete der Staatsduma mobilisiert worden. (Es geht dabei um die 19jährige Lija Saurbekowa aus Tschetschenien, die nach physischer und psychologischer häuslicher Gewalt am 13. Mai aus dem Elternhaus geflohen ist und inzwischen im Ausland Sicherheit gefunden hat. – Anmerkung der Redaktion) Es kann hier angemerkt werden, dass das Bestreben, einen Menschen „in die Familie“ zurückzubringen und ihn dem elterlichen Willen zu unterwerfen, wie immer er auch sein mag, gleichfalls ein Demonstrieren eben jener traditionellen Werte in ihrem beschränkt häuslichen Verständnis ist. Die junge Tschetschenin hat es vorerst geschafft, sich vor den Verwandten zu verbergen, wobei, der Reaktion des Publikums nach zu urteilen, nicht alle in Russland eine Rückkehr zum sogenannten Domostroi (ein russischer Gesetzeskodex aus dem 16. Jahrhundert, der bis ins 19. Jahrhundert im Gebrauch war und eine moralisierende und disziplinierende Funktion hatte) wollen.

„Die traditionellen Werte, dies sind nicht Romeo und Julia gegen die Transgender, wie man bei uns aus irgendeinem Grunde meint. Die traditionellen Werte, dies sind die Montagues und Capulets gegen Romeo und Julia“, wie treffend der Publizist Dmitrij Olschanskij anmerkt. „Und es ist sehr anrührend, dass sich gegen diese realen Traditionen plötzlich für einen Abend überhaupt alle vereinigt haben. Buchstäblich die gesamte „Öffentlichkeit“, wie immer sie auch nur sein mag, erzürnte und ist bestrebt, ihre Recht zu verteidigen, in der „Gegenwart“ zu leben.

Die von Russlands Offiziellen deklarierten traditionellen Werte, dies ist in erster Linie Patriotismus. Und zweitens eine internationale konservative Agenda, die teilweise Russland überhaupt nicht eigen ist. Im Unterschied zum Westen sind die Bekämpfung der LGBT-Bewegung (die in der Russischen Föderation als eine extremistische gelabelt wurde und verboten ist) und die Unterstützung der traditionellen Konfessionen – tatsächlich eher eine symbolische — bei uns überhaupt nicht entwickelt. Russland demonstriert sich als ein konservatives Bollwerk der ganzen Welt. Wirkt bzw. funktioniert dies alles innerhalb des Landes? Wenn man sich die Anzahl der Schwangerschaftsunterbrechungen und Scheidungen anschaut, nicht sehr…

Das Jahr der Familie sieht bisher wie eine hübsche Verpackungshülle aus, unter der sich nichts befindet. Genauer gesagt, es gibt irgendwelche Veranstaltungen, die – wie es so schön heißt – für ein Abhaken durchgeführt werden. Man kann ein Dutzend thematische Konzerte veranstalten. Was für eine Wirkung erzielen sie aber, wenn hochrangige Beamte Russlands Bürgern auf die Nerven gehen und parallel diskutieren, ob man nicht den Zinssatz für die Familien-Hypotheken anheben sollte. Oder wenn man einen Gesetzentwurf zurückweist, der kinderreichen Vätern mit drei Kindern einen Schutzbrief vor einer Mobilmachung gewährt. Solch eine Vergünstigung gibt es nur für Väter mit vier und mehr Nachfahren. Die Gewährung dieser für Männern mit drei Kindern schadet der personellen Auffüllung der Armee, wie sich herausstellt.

Ja, und da ergibt sich, dass das Jahr der Familie in Russland einer Profanierung oder gar den Versuchen einer Untergrabung der Gesetzlichkeit bzw. einem Ignorieren der realen (und nicht von den Ideologen skizzierten) Interessen der Bürger ähnelt. Im Idealfall muss man den Familien nicht mit offiziösen „Familien-Veranstaltungen“ helfen, sondern konkret, wobei die realen Bedürfnisse der Bürger Russlands in Bezug auf Sicherheit, Gesetzlichkeit und einen Schutz ihrer Rechte sowie einem wirtschaftlichen Wohlergehen berücksichtigt werden.