Als am vergangenen Mittwoch die Landesführung versprach, die Details des Zustands der Dreifaltigkeitsikone von Andrej Rubljow zu klären, machte sich etwas Erleichterung unter Kunstexperten und Kunstwissenschaftlern sowie Restauratoren breit. Am Vorabend war bekannt geworden, dass Kunstwissenschaftler der Tretjakow-Galerie, in der das Meisterwerk altrussischer Kunst aufbewahrt wird, im Grunde genommen ein Verbot für die Übergabe der Reliquie an die russisch-orthodoxe Kirche sogar für eine zeitweilige Nutzung ausgesprochen hatte. Als Grund wurde der „komplizierte und instabile Zustand der Ikone“ angegeben. Im Moskauer Patriarchat war man über diese Entscheidung betrübt und machte sich gar Gedanken, womit das Kulturdenkmal am Pfingstsonntag gemäß dem russischen Kirchenkalender (am 4. Juni) in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale ersetzt werden könnte. Aber nur zwei Tage lang musste man unter den Kirchenhierarchen Trübsal blasen, da am Freitag das russische Kulturministerium entschied: Die Ikone kommt für zwei Woche doch in die Kathedrale.
Allem nach zu urteilen, versetzte die Ablehnung der Kunstwissenschaftler aus der Tretjakow-Galerie. Das Meisterwerk altrussischer Kunst des 15. Jahrhunderts an die von Patriarch Kirill geleitete Kirche zu übergeben, den Kreml in eine Sackgasse. Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des Präsidenten der Russischen Föderation, unterstrich in einem Gespräch mit Journalisten, dass die Landesführung früher nie irgendwelche Experteneinschätzungen zur Ikone erhalten hätte. „Wir werden mit den Experten sprechen und dieses Thema durchsprechen. Das Thema ist ein sehr ernsthaftes, und natürlich werden wir die Details klären“, versprach Peskow.
Der Streit darüber, wem die Ikone gehören soll – der Kirche oder der Museumscommunity – dauert bereits 15 Jahre an. Die neue Welle erbitterter Diskussionen wurde am 15. Mai dieses Jahres losgetreten. An diesem Tag war auf der offiziellen Internetseite des Moskauer Patriarchats die Mitteilung veröffentlicht worden, dass der russische Präsident Wladimir Putin die Entscheidung gefällt hätte, das Werk Rubljows an die Kirche „als Antwort auf die zahlreichen Bitten orthodoxer Gläubiger“ zu übergeben. Da hatte auch die russisch-orthodoxe Kirche erklärt, dass die Ikone beginnend ab dem 4. Jahr ein ganzes Jahr lang in der Christus-Erlöser-Kathedrale weilen werde und danach für immer in das Kloster zur Dreifaltigkeit und zum Heiligen Sergius in Sergijew Possad des Moskauer Verwaltungsgebietes komme (von irgendwelchen Restaurierungsarbeiten war dabei keine Rede gewesen – Anmerkung der Redaktion).
Ein Tag später erläuterte Patriarch Kirill, dass er den Leiter der Präsidialadministration Anton Vaino gebeten hätte, eine Überführung der Ikone für nur ein Paar Wochen in die Christus-Erlöser-Kathedrale zu organisieren. Und er hätte in keiner Weise solch eine Großzügigkeit vom Kreml erwartet. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche sandte eiligst ein Dankschreiben an Putin. Und die Kirche begann, sich aktiv auf die Übergabe des Kunstwerkes vorzubereiten, wobei sie zusicherte, alle erforderlichen Bedingungen für ihre Aufbewahrung zu erfüllen.
Jedoch hatte die Nachricht, dass die Verantwortung für die Dreifaltigkeitsikone nunmehr die Kirche tragen werde, hatte eine Empörungswelle ausgelöst. Auf der Internetseite der Vereinigung der Kunstwissenschaftler war ein offener Brief an Kulturministerin Olga Ljubimowa veröffentlicht worden. Mitglieder der Kommission des Wissenschaftlichen Rates der Russischen Akademie der Wissenschaften „Geschichte der Weltkultur“ riefen die 42jährige Ministerin auf, „alles Mögliche zu tun, um eine Zerstörung des überaus großen Denkmals der russischen und Weltkultur zu verhindern“. Den Appell unterschrieben 17 Personen, unter ihnen das Akademiemitglied Alexej Gippius, das korrespondierende Akademiemitglied und Doktor der Geschichtswissenschaften Leonid Beljajew u. a.
Dabei hatte es von der Tretjakow-Galerie und ihrer neuen Direktorin Jelena Pronitschewa keine offiziellen Mitteilungen gegeben. Und die Öffentlichkeit gelangte zu der Auffassung, dass das Museum entschieden habe, „kampflos“ das Werk Rubljows abzugeben. Jedoch wurden am 23. Mai Protokolle einer Sitzung des Restaurierungsrates der Tretjakow-Galerie vom 15. Mai im Internet veröffentlicht, in denen ausführlich der heutige Zustand des Exponats beschrieben wurde. Laut dem 36seitigen Dokument befindet sich die Dreifaltigkeitsikone nicht bloß in einem schlechten, sondern in einem sehr schlechten Zustand. Unter anderem haben sich allein im Verlauf des letzten Jahres zehn neue Stelle an dem Kulturdenkmal gebildet, an denen sich die Farbschicht vom Levkas (Malgrund) gelöst hatte. Fünf von ihnen „erfordern eine unverzügliche Befestigung durch Restaurierungsarbeiten“. Daneben „hat sich der Riss an der rechten Stoßstelle der Holztafeln für den Ikonen-Bildträger im Bereich der Darstellung des Gesichts und der Figur des rechten Engels vergrößert“. Weiterhin waren noch mindestens 60 Beschädigungen vor einem Jahr festgestellt worden, als die 142 Zentimeter hohe und 114 Zentimeter breite Dreifaltigkeitsikone für einige Tage in die Lawra zur Dreifaltigkeit und zum Heiligen Sergius gebracht worden war.
Das Verdikt der Spezialisten war eindeutig: „Die Ikone „Heilige Dreifaltigkeit“ von Amdrej Rubljow darf nicht von der Tretjakow-Galerie zum Tag der Dreifaltigkeit am 4. Juni dieses Jahres aufgrund des komplizierten und instabilen Zustands, aber auch der Unvorhersehbarkeit des anhaltenden Prozesses der negativen Veränderungen herausgegeben werden. Gegenwärtig befindet sich die Ikone in einer Restaurierungswerkstatt im Prozess einer unverzüglichen Restaurierung des Denkmals“.
In der russisch-orthodoxen Kirche bezeichnete man die Befürchtungen der Kunstwissenschaftler als „übermäßige“ und „überzogene“. Der Leiter des Expertenrates des Moskauer Patriarchats für Kirchenkunst, Architektur und Restaurierung, Oberpriester Leonid Kalinin, der selbst mit den Worten „Mit dem Dokument vertraut gemacht“ das Gutachten gegengezeichnet hatte, versicherte gegenüber der Moskauer Nachrichtenagentur „Interfax“, dass er zwar auch „die Besorgnis der Museumsfachleute teilt“, aber der Auffassung ist, die „Entscheidungen der Leitung nicht zu diskutieren. Sie werden erfüllt – durch alle gesetzeshörigen Bürger“. Er hatte gleichfalls erklärt, dass am 4. Juni (am Pfingstsonntag gemäß dem russischen Kirchenkalender) in der Christus-Erlöser-Kathedrale wahrscheinlich eine der offiziellen Kopien des Rubljow-Meisterwerks präsentiert werde. Freilich fügte der angesehene Geistliche hinzu: „Wenn Patriarch Kirill dies für nötig erachtet“.
Die Bereitschaft, der russisch-orthodoxen Kirche eine Kopie der Rubljow-Dreifaltigkeitsikone des Restaurators Wassilij Kirikow zur Verfügung zu stellen, hatte man im Zentralen Andrej-Rubljow-Museum für altrussische Kultur und Kunst signalisiert. Dort erläuterte man, dass man dies „auf Bitten des Kulturministeriums“ tun werde. Mit Stand vom 24. Mai hatte es keine solche Bitte gegeben, wie Museumsdirektor Michail Mindlin gegenüber „Interfax“ mitteilte.
Das Kulturministerium entschied am Freitag anders: Das Gutachten aus der Tretjakow-Galerie wird ignoriert, die Ikone wird in die Christus-Erlöser-Kathedrale gebracht. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, erzielte damit einen erneuten Erfolg auf der politischen Bühne des Landes. Ambitionen und Egoismus setzten sich durch, und dies alles mit den Worten „es geschieht auf Bitten zahlloser Gläubiger“, die freilich in Sachen Restaurierung meistens nur geringe oder gar keine Kenntnisse besitzen. Und am Samstag gab es noch einen „Nachschlag“ in dieser unschönen Geschichte. Der bereits erwähnte Leonid Kalinin ist per Anordnung von Kirill von all seinen Ämtern entbunden und mit dem Verbot belegt worden, als Geistlicher zu wirken. Die schockierende Entscheidung gegen den anerkannten und geschätzten Experten wurde in einer Mitteilung des Patriarchen-Pressedienstes mit den folgenden Worten begründet – „Behinderung der Überführung der Dreifaltigkeitsikone von Andrej Rubljow in die Christus-Erlöser-Kathedrale am 4. Juni“.