Russlands Staatspropaganda beginnt jeden Tag mit Meldungen über eine angebliche Zunahme der prorussischen Stimmungen auf den sogenannten befreiten Territorien der Ukraine. Am 25. Mai haben beispielsweise alle Konsumenten dieser Staatspropaganda erfahren, dass das Verwaltungsgebiet Saporoschje, sobald Kiew die Kontrolle über dieses einbüßt, Kurs auf einen Beitritt zur Russischen Föderation nehmen werde.
Der Prozess des stückweisen Anschlusses der Ukraine an Russland entsprechend der Entwicklung der am 24. Februar begonnenen sogenannten militärischen Sonderoperation ist allem nach zu urteilen in den obersten Führungsriegen gebilligt worden. Beweis dafür ist der Erlass von Wladimir Putin über eine vereinfachte Gewährung der Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation für die Einwohner der ukrainischen Verwaltungsgebiete Saporoschje und Cherson. Es sei daran, dass der Donbass nach dem Jahr 2014 auf so etwas ein halbes Dutzend Jahre gewartet hatte. Dabei wird eine mögliche Angliederung wahrscheinlich in einer aus rechtlicher Sicht maximal vereinfachten Variante erfolgen.
Während früher die hochrangigen Vertreter des russischen Staates unbedingt die Notwendigkeit von Referenda als einziges Verfahren unterstrichen, um die Meinung der Menschen zu ermitteln, werden jetzt auch Vorgehensweisen rein des Apparates verworfen. Die aber schlagen gerade die einheimischen Funktionäre (Kollaborateure im Sprachgebrauch von Kiew – Anmerkung der Redaktion) vor, die durch Moskau in die Führungsämter gehievt worden sind. Im Gebiet Cherson beispielsweise will man nicht die Phase einer sozusagen unabhängigen Volksrepublik, um sich über dieses Format und nach dem Vorbild der Donbass-Republiken DVR und LVR in die Gesetzgebung über die Aufnahme neuer Subjekte der Russischen Föderation zu integrieren, durchlaufen. Dort bittet man, sie von Anfang an als ein solches Subjekt anzusehen. Allem nach zu urteilen ist auch Saporoschje geneigt, diesen Weg zu beschreiten.
Und scheinbar versetzt solch eine Einfachheit den Kreml im Kontext der Sonderoperation schon nicht mehr in Verlegenheit, wie auch das Ende dieser Redensart an sich (gemeint ist die russische Redensart „der Dumme kann mehr Schaden anrichten als ein Bösewicht“ – Anmerkung der Redaktion). Und das prorussische Aktiv sagt es auch frank und frei: Die Referenda werden ja doch weder die Ukraine noch der Westen oder noch irgendwelche internationalen Strukturen anerkennen. Und wozu da Potjomkinsche Dörfer errichten? Man kann dies aber auch noch als ein Signal an den Kreml von unten her ansehen: Es bestehen große Zweifel, dass es jetzt gelingen wird, eine reale elektorale Prozedur zu organisieren und durchzuziehen.
Und dennoch wird Moskau sicherlich die Anwärter auf einen Platz in der freundschaftlichen Familie der russischen Regionen veranlassen, ein nicht an ein Referendum reichendes Quasiplebiszit in der Art der sogenannten Volksabstimmung des Jahres 2020 zu den Änderungen an der Verfassung der Russischen Föderation zu veranstalten. Einerseits wird dies doch eine massive soziologische Meinungsumfrage sein, andererseits eine gewisse, sozusagen scheinbar vom Volk gewährte Anerkennung der Legitimität der Entscheidungen, die die Herrschenden brauchen.
Dabei denkt man im Kreml traditionsgemäß scheinbar vorerst nur in allgemeinen Zügen darüber nach, was weiter sein wird. Nach der einen oder anderen Form einer Übernahme der neuen Territorien. Weiter wird sich aber möglicherweise die Frage nach einer bereits „ukrainischen“ Korrektur des Grundgesetzes ergeben, da die Gebiete Saporoschje und Cherson sowie die Donbass-Republiken DVR und LVR Russland rund 5,5 Millionen Menschen bescheren werden. Rein technisch bedeutet dies das Erfordernis, mindestens ein Dutzend Direktwahlbezirke für die Wahlen zur Staatsduma (zum Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) zu bilden. Und diese Bezirke müssen entweder von den gegenwärtigen Subjekten der Russischen Föderation abgeknapst oder durch eine Aufstockung der Anzahl der Abgeordneten hinzugefügt werden.
Ein Problem wird es auch mit der Zählung der Menschen geben, die Russland zufallen werden. Wird man sich auf die formale Anzahl aus dem ukrainischen Register stützen oder wird man doch direkt konkret jede einzelne Person zählen? Aber zu welchem Zeitpunkt – zu Beginn der Sonderoperation oder zu deren Abschluss? Und was wird man mit den offenkundig illoyalen Gruppen des Elektorats machen, vor allem mit der städtischen Bevölkerung? Sich auf maximale Weise von ihnen trennen oder hart unterdrücken? Alles in allem besteht der Zweifel, dass der faul gewordene Staatsapparat mit den Herausforderungen fertig werden wird. Und für das politische System der Russischen Föderation kann es zu einer „Nichtverdauung“ durch den Magen aufgrund der großen Menge an eigentümlichen ukrainischen Wählern kommen.
All die acht Jahre hatte Russlands Staatspropaganda Kiew vorgeworfen, dass es den Donbass aus der Sicht einer Kontrolle über das Territorium und nicht aufgrund der Sympathien der dortigen Bevölkerung brauche. Es scheint, dass jetzt auch Moskau in eine analoge Situation gerät. Derweil sind für eine Entwicklung Russlands als ein moderner Staat die Menschen offenkundig wichtiger als Gebiete, von denen es auch so genug gibt. Wenn aber alles ausschließlich eine Sache geopolitischer Spiele ist, so wird es dann natürlich umgekehrt der Fall sein.