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Wenn Merkel nicht die Politik verlassen hätte, und Makron nicht mit dem Wahlkampf beschäftigt wäre


Die einstige Bundeskanzlerin Angela Merkel ist mit einem eigenartigen öffentlichen anderthalbstündigen Interview für den SPIEGEL-Autoren Alexander Osang auf der Bühne des Berliner Ensembles aufgetreten. Der 180 Plätze zählende Saal war bis auf den letzten voll. Zu einer der Hauptfragen wurden die sich derzeit in der Ukraine abspielenden Ereignisse.

Was das am 24. Februar dieses Jahres Geschehene für Merkel eine Überraschung? Allem nach zu urteilen, war die Ex-Kanzlerin auf solch eine Entwicklung des Szenarios für den russisch-ukrainischen Konflikt vorbereitet. A. Merkel selbst antwortet in dem Geiste, dass bereits im Oktober des vergangenen Jahres die entsprechenden Dienste der USA vor der Möglichkeit dessen gewarnt hätten, was sich am 24. Februar ereignet hat. Die Vereinigten Staaten hätten im Herbst über die Perspektiven militärischer Aktivitäten Russlands in der Nähe der ukrainischen Grenze informiert.

Es sei daran erinnert, dass gerade das Thema „Russland und dessen militärischen Aktivitäten in der Nähe der ukrainischen Grenze“ auch das hauptsächliche beim Treffen der NATO-Außenminister gewesen war, das vom 30. November bis 1. Dezember in Riga stattgefunden hatte. Und augenscheinlich hatte schon da der Westen durchaus die Variante der Durchführung der jetzigen militärischen Sonderoperation durch Russland durchgerechnet.

Aufmerksamkeit verdient die Tatsache, dass Merkel von ihren friedensstiftenden Anstrengungen zur Verhinderung des russisch-ukrainischen Konflikts überzeugt ist, der, wenn es nicht ihre Anstrengungen gegeben hätte, weitaus früher hätte einsetzen können. Als einen Zeitpunkt dafür nannte sie das Jahr 2008, als in Bukarest die Frage nach einer Aufnahme der Ukraine in die NATO diskutiert wurde und sie dagegen aufgetreten war.

Als einen Ausgangspunkt für die heutigen Ereignisse bezeichnete Merkel ihren Sotschi-Besuch Anfang 2007. Im damaligen Gespräch mit Putin hätte sie begriffen, dass der Kalte Krieg nie zu Ende gegangen war. Gerade damals hätte sie nach ihren Worten verstanden, dass sich die Beziehungen mit Russland entsprechend der Linie eines immer stärkeren Auseinandergehens entwickeln. Merkel selbst verknüpft dies mit der Erklärung Putins, dass er im Unterschied zu ihr den Zerfall der UdSSR als eine große Tragödie des 20. Jahrhunderts auffasse. Für sie sei dies laut ihren Worten der glücklichste Moment ihres Lebens gewesen.

Man kann der früheren Bundeskanzlerin beipflichten, dass die Minsker Abkommen ein Schlüssel zur Verhinderung des heutigen Dramas gewesen seien. Sie konstatiert die Unmöglichkeit ihrer Umsetzung, vermeidet aber leider, den Schuldigen dafür zu nennen. Nach ihrer Einschätzung hätte sie selbst bereits im Zusammenhang mit der Bekanntgabe des Aussteigens aus der Politik ihren Einfluss auf die Führung der EU-Länder verloren, und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sei mit dem eigenen Wahlkampf beschäftigt gewesen. Anders gesagt, es hätte keinen gegeben, um den Minsker Prozess zu retten.

Angela Merkel betonte in diesem Zusammenhang, dass sie aufmerksam den Moskau-Besuch des bereits neuen Kanzlers Olaf Scholz am 15. Februar dieses Jahres verfolgt hätte. Und gerade die Annahme der Entscheidung über die Anerkennung der DVR und LVR durch die Staatsduma (Russlands Unterhaus – Anmerkung der Redaktion) an diesem Tag, die Merkel in ihrem Interview als „separatistische Republiken“ bezeichnete, hätte bei ihr ein „ungutes Gefühl“ ausgelöst. Es sei klar, dass diese Entscheidung eindeutig dem Minsker Prozess ein Ende bereitet und damit die Büchse der Pandora geöffnet hätte.

Jedoch verlieren in der Regel sowohl die russischen als auch westlichen Kommentatoren aus dem Blick, dass zum Anstoß für eine formale Einstellung des Minsker Prozesses die „Bitte“ der Kommunisten, die bereits am 19. Januar an Präsident Putin gerichtet worden war, um eine Anerkennung der DVR und der LVR im Interesse des „Schutzes vor einem Genozid“ geworden war. Die Versuche der Kremlpartei „Einiges Russland“, durch juristische Tricks diese Entscheidung, die zu einer direkten militärischen Konfrontation führt, zu verhindern, scheiterten. Putin war faktisch vor die Wahl gestellt worden – diese Republiken anerkennen oder wahrscheinlich die Präsidentschaftswahlen von 2024 verlieren.

Wichtig für das Begreifen der innenpolitischen Prozesse in Russland ist dies, dass für die Resolution der KPRF in der Duma 351 Abgeordnete stimmten. Es sei gesagt, dass dies Vertreter eben jenes „tiefverwurzelten Volkes“ waren, die durch dieses gewählt wurden und hinsichtlich dessen in der letzten Zeit so viele Diskussionen geführt werden.

Ob die Handlungen der KPRF ein „patriotischer Sturm und Drang“ gewesen waren oder ob dahinter sorgfältig kalkulierte Berechnungen standen, ist vorerst schwer zu sagen. Aber eines ist klar, dass letzten Endes sie vor allem den US-amerikanischen und einigen anderen westlichen Politikern zum Nutzen gereichten, die, wie die Kolumnistin Tatiana Stanovaya in einem Gastbeitrag  im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“(Was der Westen über Putin )immer noch(nicht versteht) schreibt, Hoffnungen hegen würden und der Annahme seien: „Putin verliert nicht nur militärisch, sondern auch innenpolitisch, und die politische Lage in Russland ist so, dass Putin bald ein Putsch drohen könnte“.

Allem nach zu urteilen, basierten auf den Szenarios für die russisch-ukrainische militärische Konfrontation die Berechnungen einer Reihe einflussreicher Politiker des Westens, vor allem amerikanischer. Sie veranlassten Kiew zu einer unnachgiebigen Haltung hinsichtlich einer Realisierung der Minsker Abkommen.

So behauptet Stanovaza in ihrer  Analyse der heutigen militärischen Situation mit der Unterzeile „Die Frage, ob man Putin einen Ausweg aus dem Krieg eröffnen muss, ist nebensächlich: Er glaubt, dass er gewinnt. Der Westen muss die Situation anders betrachten, wenn er effektiver vorgehen will.“ Was „anders“ bedeutet, wird durch den Artikel ziemlich neblig nach meinem Sicht erläutert.

Wichtuger Satz bei Stanovaya lautet:„Einer der Gründe, warum es so schwierig ist, Russlands Absichten zu verstehen und zu begreifen, was im Ukrainekrieg auf dem Spiel steht, ist die erhebliche Diskrepanz zwischen der Sichtweise externer Beobachter und der Sichtweise des Kremls auf die Ereignisse“. „Welche Zugeständnisse die Ukraine auch immer machen könnte (unabhängig davon, wie politisch realistisch sie sein mögen), Putin wird den Krieg so lange weiter eskalieren, bis der Westen seine Herangehensweise an das sogenannte Russlandproblem ändert. Er müsste zugeben, dass – wie Putin es sieht – die Wurzeln der russischen Aggression darin liegen, dass Washington die russischen geopolitischen Belange 30 Jahre lang ignoriert hat.“ Genau deswegen sei die Ukraine  lediglich eine Geisel der sich abspielenden Ereignisse.

Und es ist schwer, diesem Fazit nicht zuzustimmen.