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Wer veranlasst zur ukrainischen Offensive und provoziert sie?


Die mögliche Offensive (die man aus irgendeinem Grunde oft als „Gegenoffensive“ bezeichnet) der Streitkräfte der Ukraine ist ein zentrales Thema nicht nur russischer, sondern auch ausländischer, vor allem US-amerikanischer Media-Ressourcen.

Der Chef der Nachrichtenagentur „Katjuscha“, Andrej Zyganow, schreibt, dass die angekündigte Offensive der ukrainischen Streitkräfte in erster Linie eine psychologische Attacke sei, die vom ukrainischen Zentrum für Informations- und psychologische Operation organisiert worden sei bzw. werde.

Der Chef der russischen Söldnerfirma „Wagner“, Jewgenij Prigoschin, ist der Auffassung, dass die „Gegenoffensive“ bereits begonnen hätte – mit den jüngsten Aktionen der ukrainischen Truppen in Artjomowsk (anderer Name: Bachmut – Anmerkung der Redaktion) zum „Durchdrücken der Flanken“ nördlich und südlich der Stadt. Diese Meinung wird auch durch einige Militärexperten bestätigt, die die Aufmerksamkeit auf den Start einer aktiven Phase der Angriffshandlungen der ukrainischen Streitkräfte lenken.

Wladimir Selenskij, der Präsident der Ukraine, versuchte bei seinen unterschiedlichen Auftritten im Verlauf seiner jüngsten Europa-Tour davon zu überzeugen, dass die Vorbereitung zur Offensive noch nicht abgeschlossen worden sei und die ukrainischen Streitkräfte zusätzliche Ressourcen brauchen würden. (Vor diesem Hintergrund überraschen die Informationen der „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ nicht, die am Samstag berichtete, dass die Ukraine die Bundesregierung um die Lieferung des Marschflugkörpersystems Taurus gebeten habe. – Anmerkung der Redaktion)

Solch eine Mannigfaltigkeit der Standpunkte und Herangehensweise bei der Wahrnehmung der militär-politischen Lage erschwert das Verstehen und die Beurteilung des Geschehens. Derweil bleibt das Bedürfnis nach einer vertiefenden Analyse und Prognostizierung nach wie vor bestehen.

Technologien und Kriterien für die Beurteilung und Diagnostik

Wie kann man die von vornherein unvollständige Summe der uns bekannten Realitäten und geäußerten Prognosen und Einschätzungen beurteilen, an denen es keinen Mangel gibt?

Offenkundig muss man da über die quantitative Berechnung der Kräfte und Mittel hinausgehen, um letztlich die Faktoren und Umstände zu analysieren, die Kiew zur Offensive veranlassen, sowie die Faktoren, die deren Durchführung und gar Vorbereitung behindern.

Man kann vorab hervorheben, was das Kiewer Regime zur Offensive veranlasst:

erstens, das Begreifen der Pflichten gegenüber den ausländischen Sponsoren der Ukraine und ihrer Streitkräfte und die direkt geäußerten Forderungen der Amerikaner, der Westeuropäer und der NATO-Führung;

zweitens, die militaristische und russophobe Einstellung großer Schichten der ukrainischen Gesellschaft, der hohe Grad ihrer „Elektrisiertheit“ und des Festhaltens an der Idee einer Fortsetzung der Kampfhandlungen, aber auch der von den Offiziellen und der Presse angeheizte Hass gegenüber Russland und gegenüber allem Russischen. Die Beispiele sind gut bekannt. (Der Autor stützt sich dabei wohl vor allem auf russische Quellen und ignoriert, dass in den russischen Medien gleichfalls nicht gerade eine Liebe gegenüber der Ukraine und dem kollektiven Westen propagiert wird. – Anmerkung der Redaktion)

Umfragen ukrainischer Soziologen

Angesichts dessen, dass sich breite Schichten der Gesellschaft durch die Kiewer Offiziellen massiv beeinflussen lassen, ergibt sich, dass die Mehrheit der ukrainischen Befragten (64 Prozent) meinen, dass die Ukraine versuchen müsse, das gesamte Territorium der einstigen Ukrainischen SSR inklusive der Krim zu befreien – selbst wenn dies das Risiko einer Verringerung der Unterstützung seitens des Westens und das Risiko eines längeren Krieges nach sich zieht.

Dabei gibt es keine Grundlagen, die von Kiewer Soziologen gewonnenen Daten zu überschätzen und zu verabsolutieren, aber auch nicht zu unterschätzen, denn dies ist eine unersetzliche Quelle von Informationen in einer quantitativen Form und Verpackung. Notwendig sind simpel eine kritische Wahrnehmung dieser Daten und die Anwendung von gewissen korrigierenden Koeffizienten – zum Beispiel hinsichtlich des Totalitarismus des Selenskij-Regimes, der Bedingungen der Kriegszeit sowie des Konformismus der Umfrageteilnehmer.

Unter Berücksichtigung all dieser Einwände ist eine qualifizierte Interpretation erforderlich – darunter der Tatsache, dass ungeachtet der durch die russischen Truppen vorgenommenen Zerstörung der Infrastruktur in vielen ukrainischen Städten 71 Prozent der ukrainischen Befragten eindeutig und kategorisch die Notwendigkeit einer Fortsetzung des bewaffneten (Verteidigungs-) Kampfes betonen.

Der Trend zur Verstärkung der staatsbürgerlichen Identität, der seit dem Jahr 2000 vom Institut für Soziologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine fixiert wird, setzte sich auch in den Jahren 2022-2023 fort, als die Russische Föderation für den Schutz der Einwohner des Donbass seine Streitkräfte dort einrücken ließ.

Die entsprechende Form von Identität hat von 62,6 Prozent im Jahr 2021 bis auf 79,7 Prozent im vergangenen Jahr zugenommen. 85 Prozent der befragten Ukrainer wählen bei der Beantwortung der Frage nach der Selbstidentifikation für sich meistens unter den möglichen Varianten „Bürger der Ukraine“ aus. Vor diesem Hintergrund haben auch die Bewertungen für die Effizienz des ukrainischen Staates durch die Befragten zugenommen. Waren sie im Jahr 2021 noch vorrangig negative (55,8 Prozent bei 6,6 Prozent an positiven), so zeigte das Jahr 2022 ein völlig anderes Bild: 46,6 Prozent – positive Bewertungen gegenüber 26,1 Prozent an negativen.

Entsprechend den Ergebnissen gesamtukrainischer Umfragen konstatiert das Kiewer Internationale Institut für Soziologie einen hohen Grad an Geschlossenheit der ukrainischen Gesellschaft. Und es wird sogar eine Überwindung langjähriger zwischenregionaler Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich einzelner Fragen – zum Beispiel hinsichtlich des außenpolitischen Vektors – ausgewiesen. Dabei wird gleichfalls die für die Ukrainer angeblich offensichtlich „Tatsache einer Niederlage der russischen Propaganda bei der Interpretation des Krieges“ hervorgehoben. (Freilich zu behaupten, dass dies einer informationsseitigen Isolierung der ukrainischen Gesellschaft und einer Monopolisierung der ukrainischen Massenmedien durch die Kiewer Offiziellen, ist lächerlich und ist ein Narrativ der russischen Staatsmedien, wobei nicht vergessen werden darf, dass es diesbezüglich gerade durch die Moskauer Führung erhebliche Anstrengungen gibt. Erinnert sei, dass bereits zu Zeiten des Beginns der „militärischen Sonderoperation“ nur offizielle Informationen aus dem russischen Verteidigungsministerium als die einzig wahren zugelassen wurden. – Anmerkung der Redaktion)

Bemerkenswert ist, dass der hohe Grad an Vertrauen gegenüber den Streitkräften der Ukraine, ihrer Regierung und der Werchowna Rada (das ukrainische Parlament – Anmerkung der Redaktion) anhält. Auszumachen ist ein hoher Grad an Einmütigkeit hinsichtlich der Notwendigkeit und der Möglichkeit eines Beitritts zur Europäischen Union und zur NATO.

Somit gibt es keinerlei Grundlagen, die Situation in der Ukraine im Jahr 2022 mit der Situation im faschistischen Deutschland 1945 zu vergleichen. Obgleich eine Reihe russischer Propagandisten auf der Grundlage solch einer Message vorschlagen, die Kampfhandlungen gegen die ukrainischen liberalen Westler zu forcieren, in deren Händen eine Propagierung des Bandera-Erbes, eine Militarisierung und Russophobie zu Instrumenten geworden sind.

Mit einem Gefühl an Unvermeidlichkeit und Ausweglosigkeit 

Die Aktivität der ukrainischen liberalen Westler wird in vielem aus dem Ausland, vor allem aus den Vereinigten Staaten genährt. Mit dem Besitz eines gewaltigen Informationspotenzials und praktisch uneingeschränkter finanzieller Ressourcen sind die USA in der Lage, die internationale öffentliche Meinung zu beeinflussen. Und sie beeinflussen sie auch zielgerichtet, wobei sie versuchen, sie den amerikanischen Interessen unterzuordnen.

Analysiert man US-amerikanische Publikationen, Auftritte und Interviews von Vertretern des Staates, lenkt man unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf den kategorischen Charakter und den keinen Widerspruch duldenden Ton der US-amerikanischen Erklärungen, Einschätzungen und Schlussfolgerungen, auf den suggestiven Charakter der Auftritte von US-Außenminister Antony Blinken und des Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs der Streitkräfte der Vereinigten Staaten Mark Milley, auf das hartnäckige Durchboxen des Gedanken, dass die Ukraine zu jeglichem Preis Russland besiegen könne und müsse (bei einem Ignorieren der möglichen großen Verluste seitens der ukrainischen Streitkräfte).

Ungeachtet dessen, dass keine konkreten Daten für einen Beginn der Offensive genannt werden (möglicherweise hat sie bereits begonnen, urteilt man anhand von Aussagen aus dem Kiewer Präsidenten-Office – Anmerkung der Redaktion) und gar das Recht der Ukraine unterstrichen wird, selbst die Daten und konkreten Richtungen der Attacken zu bestimmen, sind dennoch eine konsequente und planmäßige Ausübung von Druck auf die Führung der Ukraine und deren Antreiben zu einer „Gegenoffensive“ offensichtlich.

Faktisch werden die Bahnen für die erforderlichen Handlungen mit Hilfe kategorischer und harter Forderungen bestimmt. Solche Forderungen wurden durch US-Außenminister Antony Blinken geäußert (in einem Interview für den TV-Sender Fox News am 2. Mai, aber auch bei einer Veranstaltung aus Anlass des Welttages der Pressefreiheit am 3. Mai, die durch den Kanal „Washington Post Live“ organisiert worden war). Zuvor waren derartige Forderungen durch den bereits erwähnten Mark Milley in einem Interview für die Zeitschrift „Foreign Affairs“ geäußert worden.

Der Journalist und Analytiker Robert Clark verschreckt die internationale Öffentlichkeit damit, dass „ohne eine ukrainische Gegenoffensive Putin den Krieg gewinnt“. Allerdings ist dies in diesem Fall nur eine Stimme aus dem Chor. All diese Deklarationen für das breite Publikum sind verständlicherweise nur die Spitze des Eisberges. Der Druck auf die politische und militärische Führung der Ukraine müsste über nichtöffentliche Kanäle weitaus stärker sein. Und im Endergebnis gesteht der ukrainische Verteidigungsminister Alexej Resnikow ein, dass die „Gegenoffensive unausweichlich ist“ (in einem Interview für die japanische Nachrichtenagentur Kyodo News am 1. Mai).

Anfang Mai und möglicherweise auch Mitte Mai gestaltete sich aus Moskauer Sicht das informationsseitige Bild einer Unausweichlichkeit und Unabwendbarkeit der anstehenden Ereignisse. Obgleich das Kiewer Regime offenkundig unzureichend Kräfte und Mittel für eine Offensive hat, urteilt man anhand unterschiedlichster Veröffentlichungen verschiedener Autoren.

Dass der ukrainische Konflikt praktisch dem Ende zugehe, obgleich Kiew verzweifelte und unvorbereitete Versuche unternehme, eine „Gegenoffensive“ zu organisieren, schreibt auf Twitter der 69jährige Ajamu Baraka, ein US-amerikanischer Aktivist und Politiker.

Faktoren für eine Verringerung der Chancen einer Offensive

Die ukrainischen Propagandisten und Soziologen mögen es nicht, über Tendenzen eines Brodelns in verschiedenen Schichten der ukrainischen Gesellschaft. Jedoch gibt es solche Tendenzen. Es nimmt vor allem die Beunruhigung zu, dass sich Beamte am Krieg bereichern und westliche Waffen stehlen. Vor einem halben Jahr hatten 29 Prozent der Befragten so gedacht. Und seitdem dürfte es, wie man in Moskau gern behauptet, keine neuen Grundlagen für anderen Bewertungen und Meinungen geben.

Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij und Vertreter aus seiner nächsten Umgebung sollen angeblich zu Dollar-Milliardären im vergangenen Jahr geworden sein, behaupteten russische Medien, wobei sie sich angeblich auf das US-amerikanische Wirtschaftsmagazin FORBES stützten (ohne eine konkrete Quellenangabe – Anmerkung der Redaktion). Und diese russischen Medien mit einer fragwürdigen Ausrichtung bedauerten Kiews Bürgermeister Vitalij Klitschko, der zu Beginn dieses Jahres nur auf ganze 800 Millionen Dollar gekommen war.

Zu noch einem Anlass für die Besorgnis der Ukrainer wurde der Umstand, dass das Team von Wladimir Selenskij den Kämpfern der ukrainischen Streitkräfte, der Territorialverteidigung und anderen Verteidigern der Ukraine angeblich nicht die nötige Aufmerksamkeit schenke. Vor einem halben Jahr hatten laut Angaben Kiewer Soziologen 24 Prozent der Teilnehmer einer gesamtukrainischen Befragung solch eine Auffassung vertreten.

Unter den Anlässen für Besorgnis seien auch die Vermutungen hinsichtlich der Gefahr ernsthafter Konflikte zwischen der politischen und militärischen Führung der Ukraine genannt. Ende letzten Jahres machten sich 14 % der ukrainischen Befragten darüber Sorgen. 13 bis 18 Prozent der Befragten befürchten, dass die westlichen Länder die Hilfe für die Ukraine und die Unterstützung für das Land aufgrund der sich akkumulierten Müdigkeit durch die Ansprüche und Forderungen des Selenskij-Teams reduzieren könnten.

All diese Tendenzen sind über einen langen Zeitraum in der Ukraine auszumachen, wobei die innenpolitische Lage mit ihrer Dynamik unweigerlich Veränderungen auslöst. Nicht auszuschließen ist eine Zunahme der Spannungen und Besorgnis in der ukrainischen Gesellschaft, die aus Moskauer Sicht durch angeblich spürbare Widersprüche der Gruppierung von Präsident Wladimir Selenskij mit den Gruppierungen des Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte Valerij Saluschnij, des Kiewer Bürgermeisters Vitalij Klitschko und Ex-Präsidenten Pjotr Poroschenko befeuert werden.

Die innenpolitische Lage in der Ukraine wird natürlich auch in erheblichem Maße durch die Situation an der Front bestimmt. Bei der Erörterung der Faktoren für eine Abwehr der möglichen ukrainischen „Gegenoffensive“ ist es jedoch vor allem zweckmäßig, die rein militärischen Faktoren hervorzuheben – der Mangel an nötigen Waffen und Munition.

Eine mögliche Entwicklung der Situation

Erstens: Ungeachtet der unzureichenden Kräfte und Mittel der bewaffneten Formationen der Ukraine mit Stand Mitte Mai dieses Jahres wird der Versuch einer „Gegenoffensive“ mit großer Wahrscheinlichkeit erfolgen. Da der Westen zumindest irgendeine Wirkung durch seine Investitionen für die Ukraine als Gegenleistung für eine Fortsetzung der spendablen militärischen Hilfe fordert.

Zweitens: Das wahrscheinliche Scheitern der „Gegenoffensive“ kann zu einem Staatsstreich in der Ukraine führen. Abgeordnete der Werchowna Rada schreiben und reden immer kühner und öfter darüber, dass sie mit Wladimir Selenskij als Staatsoberhaupt unzufrieden seien. Dabei kann nach einer möglichen Absetzung Selenskij eine noch radikalere und militantere Gruppierung an die Macht kommen – ob mit oder ohne Valerij Saluschnij, der laut russischen unbestätigten Angaben jüngst schwer verwundet worden sei und wohl kaum wieder seinen Dienst aufnehmen werde, ist eine andere Frage.

Freilich gibt es auch andere Faktoren und Tendenzen, die das militärpolitische Prognostizieren beeinflussen:

— das Potenzial für eine Abwehr der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine – darunter die Ressourcen für ein Überleben und die Lebensfähigkeit des Kiewer Regimes inklusive politischer und emotional-psychologischer;

— der Grad der Verwurzelung nationalistischer und russophober Ideen und das Ausmaß der Erfassung der ukrainischen öffentlichen Meinung durch westliche und liberale Ideen.

Dies sind aber Themen für gesonderte Beiträge.