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Werden Moskau und Kiew um Medwedtschuk einen Kuhhandel beginnen?


Der Präsident der Ukraine Wladimir Selenskij hat am Mittwoch vorgeschlagen, den Oppositionsführer Viktor Medwedtschuk gegen ukrainische Kriegsgefangene auszutauschen. Nach seinen Worten versuchte Medwedtschuk, der sich unter Hausarrest befunden hatte und später untergetaucht war, das Land zu verlassen. Ihn habe man in Kiew ausgenutzt, um von den Meldungen abzulenken, denen zufolge sich ukrainische Militärs in Mariupol in Gefangenschaft begeben hatten, betonte der Vertreter der von Moskau anerkannten Lugansker Volksrepublik Rodion Miroschnik. Die Geschichte mit Viktor Medwedtschuk sei mit anderen vergleichbar, die zuvor vorbereitet und zwecks Ausübung eines negativen Einflusses auf Russland realisiert worden seien, erklärte der stellvertretende Ausschussvorsitzende für internationale Angelegenheiten des Föderationsrates (des russischen Oberhauses – Anmerkung der Redaktion), Andrej Klimow (Kremlpartei „Einiges Russland“), gegenüber der „NG“.

Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij hat in einer erneuten Videobotschaft am Mittwoch der russischen Seite vorgeschlagen, den Chef des politischen Rates der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ Viktor Medwedtschuk gegen ukrainische Kriegsgefangene auszutauschen. Nach seinen Worten hätte sich Medwedtschuk 48 Tage lang versteckt. „Und nun hatte er sich letztlich entschieden, den Versuch zu unternehmen, aus unserem Staat zu fliehen“, betonte Selenskij. Am Vorabend hatte er über die Festnahme des 67jährigen Medwedtschuk informiert, indem er dessen Foto auf seinem Telegram-Kanal veröffentlichte.

Es sei daran erinnert, dass gegen den bekannten ukrainischen Politiker und Millionär Viktor Medwedtschuk, aber auch gegen seine Gattin Oxana Martschenko Wladimir Selenskij bereits im Februar 2021 Sanktionen verhängt hatte. Und im Mai des gleichen Jahres war er als angeklagter anerkannt worden, unter anderem wegen Landesverrat und Raub nationaler Ressourcen auf der Krim. Medwedtschuk selbst bezeichnete die strafrechtliche Verfolgung als eine politische Abrechnung. Und den Fall – als einen fabrizierten. Man verhängte jedoch einen Hausarrest gegen ihn, dessen Bedingungen er nicht einhielt. Und am 18. März entschied das Lytschakow-Stadtbezirksgericht von Lwow, Medwedtschuk in absentia aufgrund seines Verschwindens nach Beginn der von Präsident Wladimir Putin am 24. Februar befohlenen Militäroperation Russlands festzunehmen.

Die Tatsache der Verhaftung des oppositionellen Parlamentariers bestätigte am Mittwoch der Leiter des ukrainischen Geheimdienstes Iwan Bakanow. Wie er auf dem Telegram-Dienstaccount präzisierte, war die Operation zur Festnahme des moskautreuen Medwedtschuks im Auftrag des Präsidenten der Ukraine durchgeführt worden.

Am gleichen Tag informierte der Berater des ukrainischen Innenministers, Wadim Denisenko, dass man im Ministerium bisher nicht zu dem vorgeschlagenen Austausch bereit sei. Nach seinen Aussagen müssten zuerst von Medwedtschuk bestimmte Aussagen gewonnen werden, „denn er besitzt einen gewaltigen Umfang an Informationen darüber, wer, wem und wieviel aus der Russischen Föderation für die Schaffung einer „Fünften Kolonne“, für die Etablierung einer Bewegung von Kollaborateuren gegeben hat“. Gegen den Politiker müsse ein maximal zügiger Gerichtsprozess durchgeführt werden. Man müsse ihn zu einer Freiheitsstrafe verurteilen, die er verdiene. Und man müsse aus ihm Aussagen holen und erst dann austauschen, konkretisierte Denisenko.

„Vereinzelte Freaks, die sich als „ukrainische Herrschende“ bezeichnen, teilen mit, dass sie aus Viktor Medwedtschuk Aussagen herausprügeln, ihn danach „rasch und gerecht“ verurteilen und dann gegen Gefangene austauschen wollen“, beschrieb am Mittwoch Russlands Ex-Präsident und nunmehriger stellvertretender Chef des russischen Sicherheitsrates Dmitrij Mwedwedjew emotional das Geschehen auf seinem Telegram-Kanal. Und er empfahl den erwähnten Vertretern, „sich aufmerksam umzuschauen und nachts die Türen fest zu verschließen, damit sie sich nicht selbst unter den auszutauschenden Personen wiederfinden“.

Am Mittwoch verlangte Medwedtschuks Gattin Oxana Martschenko von Selenskij, ihren Ehemann unverzüglich freizulassen. Ihr Appell an den ukrainischen Präsidenten ist auf dem eigenen YouTube-Kanal veröffentlicht worden. „Ich bitte Sie, alle erforderlichen Handlungen für eine unverzügliche Freilassung meines Gatten, Viktor Wladimirowitsch Medwedtschuk, zu unternehmen, den der Geheimdienst der Ukraine widerrechtlich festhält. Viktor Wladimirowitsch hat keinerlei Gesetze der Ukraine verletzt und nicht ihr Territorium verlassen. Er trat stets für Frieden und einen Dialog sowie für Eintracht in der Ukraine ein“, erklärte sie. Die 48jährige Martschenko fügte hinzu, dass man ihren Gatten aufgrund offenkundiger politischer Motive entgegen den ukrainischen Gesetzen und Normen des internationalen Rechts verfolge.

Etwas später wurde noch ein weiteres Video veröffentlicht, in dem Martschenko, die mit einem rosafarbenen Tuch ihr Haupt bedeckt hatte, sich in russischer Sprache an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit der Bitte wandte, bei der Befreiung ihres Gatten zu helfen.

Der Vertreter der Lugansker Volksrepublik in der einstigen Kontaktgruppe zur Konfliktregelung im Donbass, Rodion Miroschnik, wies auf Telegram darauf hin, dass das Aussehen des Mannes auf dem vom Geheimdienst der Ukraine vorgelegten Foto von Folterungen zeugen würde, die gegen ihn im Verlauf langer Zeit angewandt worden seien. Die Vertreter der ukrainischen Sicherheitsorgane hätten Medwedtschuk schon seit Ende Februar oder Anfang März in ihrer Gewalt haben können und hätten jetzt entschieden, ihn vorzuführen, um „informationsseitig die Schande im Zusammenhang mit einer Aufgabe von Mariupol zu verdrängen“, schrieb Miroschnik, wobei er keine Beweise für seine Behauptungen anführte.

Am Mittwoch und Donnerstag berichtete man in Russlands Verteidigungsministerium, dass alles in allem mehr als 2000 ukrainische Marineinfanteristen in Mariupol die Waffen niedergelegt hätten. Wie der offizielle Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Generalmajor Igor Konaschenkow, am Mittwoch informierte, „haben im Gebiet des Iljitsch-Metallurgie-Kombinats in Mariupol 1026 ukrainische Militärs der 36. Marineinfanterie-Brigade freiwillig die Waffen niedergelegt und sich ergeben“. (Am Donnerstag waren es 1160 Marineinfanteristen der Ukraine, die sich ergeben hatten. – Anmerkung der Redaktion)

Wie dem auch sei, die Geschichte mit Medwedtschuk sei offensichtlich nicht ohne eine Beteiligung westlicher Geheimdienste über die Bühne gegangen, behauptete gegenüber der „NG“ der stellvertretende Ausschussvorsitzende für internationale Angelegenheiten des Föderationsrates. Er betonte, dass solch eine Verfolgung eines Parlamentariers und Oppositionspolitikers als Willkür zu bewerten sei. Solch eine Einschätzung würden auch viele ausländische Kollegen teilen, fügte er hinzu, zum Beispiel in Indien und China, aber auch in EU-Ländern. Bisher würde aber ihre Stimme nicht vernommen werden.

Wie Asija Muchamedschina, Mitglied der Vereinigung der Juristen Russlands, der „NG“ erläuterte, werde die entsprechende Problematik in der internationalen Arena durch die Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe reglementiert. Gemäß diesem Dokument, das mit der Resolution 39/46 der UN-Vollversammlung am 10. Dezember 1984 verabschiedet wurde (Inkrafttreten: 26. Juni 1987 – Anmerkung der Redaktion), sind Folterungen und Erniedrigungen unzulässig. Wobei das Ansehen des Staates, der die Anwendung von Foltern und anderer Formen grausamer Behandlung zulässt, in den Augen der internationalen Staatengemeinschaft leiden könne, was dazu angetan sei, auch zu einer Verschlechterung seiner Beziehungen mit anderen Ländern zu führen, betonte Muchamedschina. Und sie erinnerte auch daran, dass ein Austausch von Gefangenen im Völkerrecht durch die Genfer Konventionen von 1929 und 1949 geregelt werde. Der Austausch werde durch die Seiten abgestimmt, die sich im Zustand eines Krieges befinden würden. Und er werde durch eine gleichzeitige Freilassung bestimmter Gefangener gewährleistet, die sowohl politische Häftlinge als auch Kriegsgefangene sein könnten, resümierte die Expertin.

Auf jeden Fall wird dies wohl kaum direkt Medwedtschuk betreffen, da er Staatsbürger der Ukraine ist. Und ein Austausch von ihm gegen Bürger auch aus der Ukraine fügt sich nicht in ein einziges internationales Format ein, was im Übrigen auch der Pressesekretär des russischen Staatsoberhauptes Dmitrij Peskow erklärte. Ungeachtet dessen war in den politischen Talk-Shows des russischen Fernsehens Viktor Medwedtschuk am Mittwochabend eines der Topthemen, wobei er auf jegliche Art und Weise gewürdigt wurde. Das dabei die Offiziellen Kiews als Sündenböcke und Bösewichte vorgeführt wurden, überraschte schon nicht mehr.