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Weshalb erinnert Russland an die Vergangenheit


In der letzten Zeit begannen immer häufiger Informationen über Gerichtsentscheide hinsichtlich des Genozids der Bevölkerung der UdSSR in der Zeit der Okkupation eines Teils des sowjetischen Territoriums durch die deutsche Wehrmacht aufzutauchen.

Bei einer Verhandlung des Twerer Gebietsgerichts vom 21. Juni wurde in einem Zivilrechtsverfahren über die Anerkennung des Genozids des sowjetischen Volkes im Verwaltungsgebiet Kalinin (heute Verwaltungsgebiet Twer) in der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges die Tatsache des Genozids juristisch anerkannt. Anfang dieses Jahres hatte das Kursker Gebietsgericht gleichfalls die Verbrechen der deutschen faschistischen Eroberer und ihrer Komplizen auf dem Territorium des Verwaltungsgebietes Kursk als einen Genozid anerkannt. Als Genozid erkannte das Smolensker Gebietsgericht den Tod von Einwohnern des Verwaltungsgebietes in der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges an. Als Genozid des sowjetischen Volkes auf dem Territorium von Ostpreußen hatte jüngst auch das Kaliningrader Gebietsgericht den Tod der dortigen Zivilbevölkerung bezeichnet. Und der Staatsanwalt der russischen Teilrepublik Karelien forderte, die Tatsache des Genozids des sowjetischen Volkes in den Kriegsjahren auch seitens Finnlands anzuerkennen.

Im vergangenen Juli haben Abgeordnete aller Fraktionen der Staatsduma (des russischen Unterhauses) einen Gesetzentwurf „über die Verewigung der Erinnerungen an die Opfer des Genozids des sowjetischen Volkes in der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges von 1941 bis 1945“ vorgelegt. In dem Dokument wird erstmals der Begriff „Genozid des sowjetischen Volkes“ bestimmt. Als diesen sind, wie aus dem Wortlaut folgt, die Handlungen von Nazi-Deutschland und dessen Komplizen auf dem zeitweilig okkupierten Territorium der UdSSR anzuerkennen. Das russische Außenministerium hatte in einer Note an das deutsche Auswärtige Amt jüngst eine offizielle Anerkennung der Verbrechen, die durch das Dritte Reich auf dem Territorium der UdSSR in den Jahren des Zweiten Weltkrieges verübt wurden, als einen Genozid verlangt.

Warum haben die russischen Gesetzgeber und Gerichte 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen, sich mit dem Problem des Genozids des sowjetischen Volkes zu befassen? In der erwähnten Note des russischen Außenministeriums ist recht ausführlich davon die Rede, dass Deutschland die Opfer der Hitlertruppen auf dem Territorium der UdSSR entsprechend einem ethnischen Prinzip diskriminiere. Berlin ignoriere beispielsweise die Forderungen nach einer Zahlung von Entschädigungen für alle Betroffenen der Leningrader Blockade. Und nicht nur für Menschen jüdischer Herkunft.

Aus der Sicht von Experten erfolgen die Gerichtsentscheide hinsichtlich des Bestehens eines Genozids nicht nur im Interesse einer Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit. Die Anerkennung der Tatsache eines Genozids erlaubt, an die juristische Verantwortung jener Länder zu appellieren, die ihn begangen haben. Anders gesagt: Selbst nach vielen Jahrzehnten kann man Ansprüche gegenüber den Aggressor-Staaten und deren Nachfolgern stellen. Und die Opfer der Nazis (beispielsweise jene, die in den Kriegsjahren Kinder waren) oder deren Nachfahren können sich mit vollem Recht und mit Hilfe der Generalstaatsanwaltschaft mit einer Klageforderung zwecks Wiedergutmachung des Schadens an die Regierung Deutschlands (und augenscheinlich nicht nur Deutschlands) wenden und eine Wiedergutmachung erhalten (bzw. fordern – Anmerkung der Redaktion). Einer solchen Klageforderung wurde in den 1990ern stattgegeben. Damals hatte die entsprechende deutsche Stiftung einmalige Zahlungen in einer Höhe von 600 bis 1200 Mark an jene vorgenommen, die die Nazis aus der UdSSR zum Arbeiten nach Deutschland verschleppt hatten.

Die Frage wird aber weiter gestellt. Schließlich hat Deutschland Zahlungen von Altersbeihilfen nicht nur an Teilnehmer der Missetaten, die in anderen Ländern verübt worden waren, einschließlich Angehöriger der SS, aber auch an deren Komplizen vorgenommen und setzt diese fort. In diesem Fall liegt eine Doppelmoral vor. Es erfolgt eine offenkundige Neuauslegung der Begriffe „Opfer“ und „Täter“. Wobei im Großen und Ganzen die heutigen deutschen Politiker, die behaupten, dass die Politik entsprechend von Regeln und nicht gemäß internationaler Vereinbarungen erfolge, ernsthaft das wahre Bild des Geschehens in der Welt verzerren.

  1. Doch sind die Regeln, von denen zum Beispiel gern die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock spricht, vom Wesen der Sache her ein vereinfachtes Verständnis für die Normen des Völkerrechts. Daher gibt es nichts besonderes an dem, dass Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Internationalen Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2022 versuchte, das Bestehen eines Genozids der Donbass-Bevölkerung zu verleugnen, was der Schlüssel zum Verstehen der Handlungen Russlands in Bezug auf Kiew war. Daher sollte die weitere juristische Entwicklung des Genozid-Begriffs, die in Russland begonnen wurde, den internationalen Politikern lehren, das ihnen heute eigene vereinfachte Begreifen der internationalen Ereignisse zu vermeiden.