Im August ist es zu einem Ereignis gekommen, das sowohl einheimische als auch ausländische Experten vorausgesehen hatten. Wie die Nachrichtenagentur Reuters meldete, hätten russische Fluggesellschaften inkl. „Aeroflot“ begonnen, Passagierjets als Ersatzteilspender im Zusammenhang mit den durch die Länder des Westens verhängten Sanktionen auseinanderzunehmen. Die Europäische Union hatte ein vollständiges Verbot für Lieferungen von Ersatzteilen, Baugruppen sowie Bauteile für Flugzeuge aus europäischer Fertigung, aber auch für ein Leasing von Flugzeugen, Hubschraubern und anderen Flugtechnik (vorgeschlagen wird, sie an die Leasinggeber zurückzugeben) beschlossen. Die Verbote tangieren gleichfalls die Versicherung und technische Wartung von Flugzeugen.
Daher ist es nicht erstaunlich, dass mindestens ein Sukhoi Superjet 100 und ein superneuer Airbus A350, der von „Aeroflot“ genutzt wird, in Ersatzteile zerlegt werden. Gleichfalls habe man laut Angaben der Agentur Anlagen aus mehreren Boeing 737 und Airbus A320 ausgebaut.
Das weitere Zerlegen russischer Flugzeuge in Ersatzteile sei nur eine Frage der Zeit, meint die Quelle von Reuters in der Flugzeugbauindustrie. Nach deren Worten würden die neuen Generationen von Flugzeugen (A320neo, A350, Boeing 737 MAX und 787) Bauteile enthalten, die man ständig erneuern müsse.
Es sei daran erinnert, dass die EU Ende Februar 2022 die Lieferung von Flugzeugen und Ersatzteilen nach Russland verboten hatte. Die Sanktionen tangierten auch die Technik, die geleast worden ist. Danach hat die russischen Aufsichtsbehörde Rosaviazia den Fluggesellschaften mit Flugzeugen in ausländischen Registern empfohlen, die Auslandsflüge einzustellen. Die entstandene Situation verlangte vom Staat und den einheimischen Airlines schnelle und entschlossene Maßnahmen zur Gewährleistung eines störungsfreien und sicheren Betriebs der entsprechenden Flugzeuge.
Das Ministerium für Industrie und Handel stellt als Hauptziel für den russischen Flugzeugbau eine maximal komplette Importsubstitution aller Systeme der Jets. Experten schlagen verschiedene Maßnahmen vor, inklusive exotische, zum Beispiel einen „Kannibalismus“ – die Demontage von Baugruppen aus den einen Flugzeugen und deren Einbau in andere; die Lieferung von Ersatzteilen über dritte Länder in die Russische Föderation, aber auch deren Erwerb von anderen Betreibern.
Wie jedoch Valerij Kudinow, der Leiter der Verwaltung für die Aufrechterhaltung der Flugfähigkeit von Flugzeugen in der Aufsichtsbehörde Rosaviazia, erklärte, werde China dies beispielsweise nicht tun. Und nicht, weil es dies nicht möchte. Derzeit ist einfach eine sehr gute Zeit für die Lösung der „Taiwan“-Frage. Nachdem dies erfolgt, würden die USA ihre Sanktionen gegen China verhängen. Und da wird es selbst Ersatzteile für Flugzeuge sehr brauchen. Für Lieferungen von Ersatzteilen nach Russland gibt es auch andere Länder. Und gegen alle kann man keine Sanktionen verhängen.
Daneben ist geplant, auch das sogenannte Revers-Engineering oder das umgekehrte Projektieren wiederaufleben zu lassen. Dies ist ein Verfahren, um ein gewisses fertiges Gerät, Bauteil oder Programm, aber auch eine Dokumentation zu untersuchen, um das Prinzip seines Funktionierens zu verstehen. Und nachdem man es begriffen hat, selbst nachzubauen. So hatten zum Beispiel die sowjetischen Ingenieure bei der Projektierung der fliegenden Festung Tu-4 gehandelt. Sie hatten die entsprechende US-amerikanische Superfestung bis zu jeder einzelnen Schraube auseinandergenommen, alles vermessen und eine eigene gebaut.
So agierten und agieren auch die Chinesen, wobei sie die sowjetischen Jagdflugzeuge und viele Waffenarten inkl. der Kalaschnikow-MPi kopierten und dabei noch verbesserten. Auf solch eine Art und Weise vorzugehen, wird auch russischen Ingenieuren vorgeschlagen. Es geht dabei um ein Kopieren westlicher Baugruppen und Bauteile von Flugzeugen unter Berücksichtigung einer Reihe entsprechender Schlupflöcher in der amerikanischen Gesetzgebung. Freilich weiß bisher keiner, wie diese Bauteile sich in ausländischen Jets verhalten werden.
Außerdem ergreift Russland in einem beschleunigten Regime eine Reihe anderer Maßnahmen für die Lösung der Probleme in der Branche. Ende Juli wurde bekannt, dass Teheran ein Abkommen über Lieferungen von Anlagen und Ausrüstungen aus iranischer Fertigung nach Russland, aber auch über die technische Wartung russischer Flugzeuge – Instandsetzung, Service und Durchführung der technischen Wartung russischer Jets in Service-Zentren des Irans — gebilligt habe.
Der Exekutivdirektor der Agentur „Aviaport“, Oleg Pantelejew, betonte, dass der Iran mit dieser Aufgabe fertig werde, denn die Industrie des Landes befinde sich lange Zeit unter Sanktionen und habe sich bereits neue Technologien angeeignet. „Der Iran nutzt heute Flugzeuge aus westlicher Fertigung, die etwa mit jenen vergleichbar sind, die es in den russischen Airlines gibt. Die Erfahrungen des Irans hinsichtlich des Einsatzes solcher Flugzeuge unter Sanktionsbedingungen werden für Russland zweifellos interessant sein“, meint Pantelejew. Dabei habe es nach seinen Worten keine Bedeutung, ob die Wartung der Flugzeuge im Iran erheblich teurer als bei den Herstellern sein werde. An erster Stelle würden jetzt die Qualität der Arbeiten und die Sicherheit der Flüge stehen.
Wenn die russischen Aufsichtsbehörden für die Luftfahrt die Genehmigungsdokumente akzeptieren, die die iranischen Behörden den einheimischen Herstellern ausgestellt haben, so wird in solch einem Fall die Nutzung von Ersatzteilen aus dem Iran legal sein. Wenn aber die russischen Behörden aufgrund der einen oder anderen Ursachen den Aufsichtsbehörden des Irans nicht vertrauen, wird es zu keiner Zusammenarbeit kommen.
Die nach der Verhängung der Sanktionen entstandene Situation im russischen Flugzeugbau verlangt wenig triviale und möglicherweise überraschende Entscheidungen. Geplant ist beispielsweise, chinesische Flugzeuge zu leasen. China baut heute Flugzeuge praktisch aller Klassen. Für Russland sind einige von ihnen interessant, beispielsweise der Jet Xian Y-20, eine analoge Version zum russischen Il-76-Frachtflugzeug. Den ersten Flug hat diese Maschine am 26. Januar 2013 absolviert. Alle Prototypen sind mit russischen D-30KP-2-Triebwerken ausgestattet worden.
Ein anderes interessantes Modell ist das Flugzeug Comac ARJ21. Dies ist ein 78 bis 90 Sitze bietender Regionaljet. Er erinnert an das US-amerikanische Flugzeug MCD-80/MD-90, das in China in Lizenz gebaut wird. Es besitzt einen superkritischen Flügel aus dem Antonow-Konstruktionsbüro und als ein Paar angeordnete hintere Triebwerke des Typs General Electric CF34. Bis Ende vergangenen Jahres sind 66 Flugzeuge ausgeliefert worden.
Die Maschine CRAIC CR929 repräsentiert die geplante Familie von Twinjet-Großraum-Flugzeugen mit einer großen Reichweite sowie mit 250 bis 320 Sitzen. Entwickelt wird es durch ein Joint Venture des chinesischen Comac-Konzerns und der Russischen Vereinigten Flugzeugbau-Korporation. Die Mission besteht darin, der Doppelherrschaft von Airbus und Boeing die Stirn zu bieten. Die Montage des ersten Prototyps hat im September des Jahres 2021 begonnen.
Natürlich gibt es bei dieser Zusammenarbeit auch Stolpersteine. Wie Alexej Sinizkij, Direktor für Forschung und Entwicklungen der Firma „Infomost Consulting“, erklärte, sind eine Reihe dieser Flugzeuge in Russland aufgrund objektiver Ursache nicht zertifiziert worden, unter anderem aufgrund der strengeren Anforderungen für einen Einsatz bei Frösten. Außerdem sind viele Komponenten (beispielsweise die Triebwerke und die Avionik) bei ihnen entweder westliche oder gemeinsame. Folglich könne Russland erneut ein und dieselben Fehler begehen und in Sanktionsfallen tappen.
Natürlich kann man aus jeglicher schwierigen Situation einen akzeptablen Ausweg finden. Vermag aber Russland ihn zu finden? Und wieviel Zeit und Mittel sind dafür erforderlich? Nur die Zeit wird es zeigen.
- S.
Russlands Industrie- und Handelsminister Denis Manturow hat am Dienstag am Rande des militär-technischen Forums „Armee-2022“ vor den Toren Moskaus die Praxis verteidigt, in deren Rahmen Bauteile der einen Flugzeuge für die Gewährleistung der Einsatzfähigkeit anderer genutzt werden. Dies sei eine internationale Praxis für die Gewährleistung einer kontinuierlichen Instandsetzung von Flugzeugen. „Natürlich hatte keiner angenommen, dass von außen her Entscheidungen zum Verbot für einen Einsatz ausländischer Erzeugnisse, die man uns all diese 30 Jahre so stark angeboten, wenn nicht gar buchstäblich „aufgedrängt“ hatte, getroffen werden. Und unsere Airlines haben sich einfach an die ausländische Technik – sowohl an die Boeings als auch an Airbus – gewöhnt, die mit einem Schlag … mit einem Nutzungsverbot belegt wurde. Wir haben natürlich eine Methode und eine Möglichkeit gefunden und nutzen sie weiterhin“, sagte Manturow.
Und aus Deutschland wurde dieser Tage Folgendes bekannt: Fast ein halbes Jahr nach Sperrung des EU-Luftraums für Flugzeuge aus Russland stehen einem Medienbericht zufolge in Deutschland noch zehn Maschinen russischer Eigentümer oder unter russischer Kontrolle. Dies berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) unter Berufung auf das Bundesverkehrsministerium. „Da die Maschinen aufgrund des EU-Sanktionsregimes einem Start- und Flugverbot unterliegen, können sie durch den Eigentümer nicht genutzt und nicht an einen anderen Ort verbracht werden“, wurde das Ministerium zitiert. In Leipzig stehen demnach drei russische Maschinen des Typs Antonov AN-124, in Köln eine Bombardier BD-100-1A10 Challenger 300 und eine Boeing 737 sowie in Frankfurt-Hahn eine Boeing 747 auf dem Boden. Weitere vier Flugzeuge stehen demnach in Baden-Baden: eine Cessna 750 Citation X, zwei Embraer ERJ-135BJ Legacy 600 und eine Bombardier BD-700-1A10 Global Express XRS. Als Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine hatte die EU Ende Februar ihren Luftraum gesperrt.