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Widersprüche zwischen Kiewer Politikern und der Armee spitzen sich zu


Wie der Sekretär des Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung der Ukraine, Alexej Danilow, erklärte, seien die russischen Einheiten ausgelaugt, und für einen Sieg sei es für Kiew nötig, die Lieferungen ausländischer Waffen zu erweitern. Zur gleichen Zeit warnte er die Mitbürger vor einer Detailierung der bevorstehenden Gegenoffensiven, da dies eine Sache der Militärs sei. Derweil sind sich Experten sicher, dass sich unter den aktuellen Bedingungen die Widersprüche zwischen der politischen Führung und dem Armee-Kommando in Kiew zuspitzen würden. Bisher drohe aber der Ukraine kein Militärputsch.

Das Thema der Erschöpfung der russischen Streitkräfte, nachdem sie neue Regionen unter Kontrolle gebracht haben, insbesondere Sewerodonezk und Lissitschansk, hat am Donnerstag der Sekretär des Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung, Alexej Danilow, angesprochen. Als Anzeichen für solch eine Schwächung nannte er in einem Interview für das „Wall Street Journal“ die Tatsache, dass die russischen Militärs jetzt nicht mehr als an einer Front gleichzeitig attackieren könnten. Obgleich die Russen als Folge einer derartigen Änderung der Taktik, wie Danilow eingestand, eine größere Anzahl von Artilleriewaffen und gepanzerter Technik in einer Richtung konzentrieren und eine Überlegenheit über die ukrainische Seite erhalten würden, wobei letztere gezwungen sei, eine Verteidigungsposition einzunehmen. Zur gleichen Zeit aber hätte das Eintreffen neuer Waffen in den ukrainischen Streitkräften, zum Beispiel von Mehrfach-Raketenwerfer-Systemen HIMARS, den ukrainischen Militärs erlaubt, bisher außer Reichweite liegende Ziele zu erreichen, unterstrich der Sekretär des Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung. Aber „in der Ukraine sind noch Dutzender solcher Startanlagen erforderlich“, resümierte Danilow.

Derweil erklärte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij am Vorabend, dass bereits zu spüren sei, wie stark und genau die westlichen Waffen zu arbeiten begonnen hätten. Und er informierte ebenfalls, dass die ukrainischen Streitkräfte in einigen taktischen Richtungen vorrücken würden, unter anderem in den Verwaltungsgebieten Cherson und Saporoschje.

Freilich, die vom Präsidenten erwähnten Offensivhandlungen im Saporoschje-Gebiet kamen nicht im aktuellen Lagebericht des Generalstabes der ukrainischen Streitkräfte vor. Nicht ausgewiesen wurden sie auch im Kommentar des Direktors des Zentrums für Studien der Armee, Konversion und Abrüstung, Valentin Badrak, für Journalisten. Obgleich der auch bestimmte Positionserrungenschaften erwähnte, von der Art eines Vorrückens im Verwaltungsgebiet Cherson und der Befreiung der Insel Smeinij (Schlangeninsel). Der Experte, der gleichfalls den Beginn von Lieferungen von HIMARS-Mehrfachraketenwerfer-Systemen hervorhob, unterstrich, dass sie bisher nur Einzelexemplare seien. „Vier plus weitere vier von den USA, ja und plus drei von Großbritannien. Drei von Deutschland. Berlin hatte zugestimmt, solche zu übergeben. Hat aber erneut aufgrund merkwürdiger Argumente die Lieferung ausgesetzt. Unter anderem aufgrund eines Fehlens von Schießtabellen“, berichtete Badrak. Nach seinen Worten müsse man, um die russischen Militärs von den besetzten Territorien der Ukraine zu verdrängen, mindestens eine 6fache Überlegenheit bei der Bewaffnung gewährleisten, aber auch – was wichtig sei – solche Waffen besitzen, die den russischen um eine Generation voraus seien. Und wenn die ukrainischen Streitkräfte im August „die notwendigen Waffen und Technik erhalten würden, so könnte man im Herbst von einer möglichen Veränderung der Situation an der Front sprechen“, wiederholte der Analytiker eine Prognose, die für seine Kollegen bereits zu einer gewohnten wurde.

Allerdings hat der Sekretär des Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung, Alexej Danilow, in einem anderen Interview, das von einem Kiewer Medium am Donnerstag publiziert wurde, die Mitbürger vor Überlegungen zu Thema darüber, wo, wann und wie die ukrainischen Einheiten zu einer Gegenoffensive übergehen werden, gewarnt. Die Bestimmung solcher Momente sei eine Sache der Militärs. Während sich mit den „Herolden“, die über bevorstehende Handlungen für eine Gegenoffensive Überlegungen anstellen würden, die Gegenaufklärung befassen müsse, warnte Danilow.

Vor solch einem Hintergrund, da so viel von Gegenoffensiven gesprochen wird, die es nicht gibt, sehen die Erklärungen der Verhandlungsführer über ein Ausbleiben von Verhandlungen noch bemerkenswerter aus.

Dass die russisch-ukrainischen Kontakte gegenwärtig ausschließlich auf der Ebene der humanitären Untergruppen – zu Fragen eines Austauschs von Kriegsgefangenen und von Leichnamen Gefallener – bestehen würden, teilte am Donnerstag im Verlauf eines TV-Marathons der Berater des Leiters des Präsidenten-Office der Ukraine, Michail Podoljak, mit. Nach seinen Worten bleibe der politisch-diplomatische Dialog der Seiten, der seit April auf Eis liegt, nach wie vor im Pausen-Modus. Im Weiteren aber müsse die Ukraine die Bedingungen am Verhandlungstisch bestimmen, erklärte Podoljak. Wie er früher erläutert hatte, sei für eine Wiederaufnahme des politisch-diplomatischen Verhandlungsprozesses erforderlich, dass die russische Seite beginnt, wesentliche militärische Niederlagen auf dem Schlachtfeld zu erleiden und nüchtern die Situation zu beurteilen.

Wie der leitende Experte des Russischen Instituts für strategische Forschungen, Oleg Nemenskij, gegenüber der „NG“ anmerkte, bräuchte der Vertreter Kiews das Gerede von einer Gegenoffensive für die Schaffung eines Informationsrummels. Um einerseits in den Mitbürgern optimistische Stimmungen und patriotische Gefühle aufrechtzuerhalten und um andererseits immer mehr neue Waffen von den ausländischen Partnern zu bekommen. Dabei seien in Praxis lediglich lokale offensive Handlungen wahrscheinlich. Ein signifikanter Erfolg aber sei wohl kaum möglich. Ja, und auch er werde von Kiew nicht besonders gebraucht, da ein Misserfolg als eine Grundlage für die Bitten um neue Hilfe diene, konstatierte Nemenskij, wobei seine Aussagen durch keinerlei Argumente belegt wurden.

Nach seiner Meinung belege die entstandene Situation einen Konflikt zwischen der politischen Führung der Ukraine und den Militärs. Widersprüche seien seit dem ersten Monat der Kampfhandlungen – also nach dem 24. Februar – zu beobachten und würden seitdem nur zunehmen. Dabei seien die Vertreter der politischen Führung von Anfang an auf die Schaffung eines „richtigen Bildes“ orientiert gewesen, wobei sie denken würden, dass davon die Übergabe von Waffen von den westlichen Ländern und die Bereitstellung genereller politischer und finanzieller Unterstützung durch sie abhängen würden. Derartige Argumente würden aber für die Militärs absurde sein. Beispielsweise, wenn man sie davon zu überzeugen suche, dass man die eine oder andere Stadt aufgeben und vorteilhaftere Positionen verlassen müsse, um Militärs und Technik zu bewahren, wie dies mit Sewerodonezk der Fall war. Die politische Führung antworte aber darauf, dass diese Stadt als ein Symbol des Widerstandes diene und nicht erlaube, einen Befehl für ein Abziehen zu gehen. Vom Prinzip her würden sich derartige Differenzen oft zwischen Politikern und Militärs offenbaren. Im ukrainischen Staat würden sie sich aber besonders markant zeigen, da man sich in Kiew auch im Bereich der Kampfhandlungen vor allem vom Erreichen einer nötigen informationsseitigen Wirkung leiten lasse, formulierte der Experte.

Wenn jedoch solche Widersprüche zunehmen, ist in der Perspektive eine Radikalisierung des Sujets nicht ausgeschlossen.

Widersprüche zwischen der politischen und der militärischen Führung würden jedoch oft zu einer Zuspitzung von Krisentendenzen und gar zu militärischen Verschwörungen führen. Vorerst aber würden die ukrainischen Militärs unter dem Druck der politischen Führungskräfte gar zurückweichen, fuhr Nemenskij fort. Letztere hätten ihre Pläne. Und ihr Erfolg hänge von der ausländischen Hilfe ab, die die politische Führung erkämpfe.

Interessant ist, dass am Vorabend der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte eine jüngste, viel Wirbel auslösende Entscheidung über das Verbot eines Ortswechsels von Wehrpflichtigen aufgehoben hat. Und darin haben Experten ebenfalls einen Sieg der Politiker über die Militärs ausgemacht.

Unter solchen Bedingungen formulieren bezeichnende Erklärungen auch Vertreter des realen Wirtschaftssektors. Der ukrainische Premierminister Denis Schmygal hat so laut Informationen des Regierungspressedienstes, der über die Präsentation eines Plans für den Wiederaufbau des Landes bei der jüngst im schweizerischen Lugano stattgefundenen Geberkonferenz (Ukraine Recovery Conference) informierte, den westlichen Partnern ein klares Signal gegeben: Die ukrainische Seite werde siegen und ihr Land wiederaufbauen. Nach Aussagen des Premiers würde das ausgearbeitete Dokument 24 strategische Richtungen enthalten, die dazu berufen seien, die nationale Sicherheit und europäische Integration zu gewährleisten. Die Teilnehmer des Forums hatten unter anderem Schlüsselprinzipien für den bevorstehenden Wiederaufbau der Ukraine bestätigt – von einer generellen Ausrichtung auf Reformen bis zur Pflicht hinsichtlich einer Gender-Gleichheit.

In Lugano sei nichts Neues zu hören gewesen, da es bisher verfrüht sei, ernsthaft zu entscheiden, wer, wann und wo das Territorium der Ukraine wiederaufbauen werde, kommentierte Oleg Nemenskij.