Die russische Gesellschaft gebe schrittweise die „sowjetischen“ mentalen Grundeinstellungen auf, schlussfolgert das staatliche Allrussische Meinungsforschungszentrum (VtsIOM) auf der Grundlage einer aktuellen Umfrage. So hatten im Jahr 2000 76 Prozent der Befragten dem zugestimmt, dass in den Jahren der Sowjetmacht „unsere Menschen nicht zu solchen wie in den Ländern des Westens geworden sind. Und dies kann man schon nicht verändern“. Heute stimmen 67 Prozent der Befragten dieser Aussage zu. Dies ist nach wie vor viel, doch das Bild ändert sich.
Die Veränderungen würden nach Meinung der VTsIOM-Soziologen durch die Antworten auf andere Fragen bestätigt werden. Beispielsweise stimmen „lediglich“ 65 Prozent dem zu, dass sich in Russland „die Menschen daran gewöhnt haben, sich kumpelhaft zueinander zu verhalten, ohne an einen Vorteil zu denken“ (im Jahr 2000 hatten so 70 Prozent geantwortet). 57 Prozent der Befragten sind der Auffassung, dass „sich bei uns alle daran gewöhnt haben, gemeinsam zu handeln. Und daher duldet man nicht diejenigen, die sich über das Kollektiv stellen“ (76 Prozent im Jahr 2000, d. h., hier hat sich die Situation wirklich bedeutend verändert). Um 14 Prozent verringerte sich der Anteil jener (von 70 Prozent bis auf 56 Prozent), die davon überzeugt sind, dass „wir uns daran gewöhnt haben, mit wenig auszukommen sowie nicht einem Erfolg und Reichtum nachzujagen“.
Man kann diese Mentalität kaum als eine ausschließlich sowjetische ansehen. Solche Vorstellung von einer „richtigen“ Gesellschaft existierten auch vor der UdSSR. Die Sowjetmacht hatte sie eher geschickt ausgenutzt und gefestigt. Der „neue Mensch“ mit anderen Grundeinstellungen und Prinzipien tauchte in den 1990er Jahren auf. Doch dieses Modell wurde zu keiner generellen Norm, löste weiter Ablehnung aus, Ressentiments und den Wunsch, die Zeit umzukehren. Und die Veränderungen, die die Soziologen nach Verstreichen eines Viertels des 21. Jahrhunderts zu fixieren versuchen, sind keine so großen und spürbaren. Auch wenn der russische Mensch das Sowjetische aus sich herauspresst, so doch nur tröpfchenweise.
Bezeichnend sind die Antworten auf die Frage nach den Herrschenden. Im Jahr 2000 hatten 80 Prozent der Befragten des VTsIOM dem zugestimmt, dass der „russische Mensch nicht ohne allmächtige Führungskräfte auskommen kann, ohne eine „starke Hand“, die seine Handlungen lenkt“. Heute sind es 65 Prozent solcher. Die Soziologen kommentieren dazu: „Dies kann indirekt eine Abschwächung der kollektivistischen und paternalistischen Grundeinstellungen, eine Zunahme des staatsbürgerlichen Selbstbewusstseins und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, belegen“.
„Kann“ ist hier ein wichtiges Wort. Denn die 65 Prozent kann man nach 80 Prozent auch anders erklären: Die Formulierung der Frage scheint eine pejorative, eine kränkende zu sein. Ihr möchte man ganz und gar nicht beipflichten, selbst wenn dies die Wahrheit ist. Wir nehmen aber an, dass die russische Gesellschaft den Paternalismus wirklich überwindet, zu Verantwortung bereit ist und zu einer bewussteren wird. Der Korridor der Möglichkeiten für solch eine staatsbürgerliche Bewusstheit ist heutzutage ein recht schmaler. Und es ist nicht zu sehen, wann und durch was er erweitert werden kann. Wenn es den Soziologen aus dem VTsIOM gelungen ist, ein neues soziales Bedürfnis zu fixieren, so kann das sich herausgebildete System dieses wohl kaum befriedigen. Und die Bedürfnisse danach, irgendwie das System an sich zu verändern, erklingen gefährlich – unter Berücksichtigung des Trends der russischen Gesetzgebung der letzten Jahre nach einem Bestrafen. Anders gesagt: Die Gesellschaft kann sich seiner ergötzen, „was für eine gute sie doch geworden ist“. Aber es wird nicht einfach sein, dafür einen Ausweg, eine Anwendung zu finden.
Die Sache ist die, dass das Bedürfnis nach einer „starken Hand“ im Jahr 2000 vollkommen befriedigt worden ist. Das staatspolitische Seite hat sich schrittweise in völliger Übereinstimmung mit dem Grundsatz umgestaltet, dem damals – der entsprechenden Umfrage des VTsIOM nach zu urteilen – 80 Prozent der Befragten zugestimmt hatten. Der Grundgedanke dieser Transformation besteht darin, dass sie kein zeitweiliges, sondern ein langfristiges, sogar ein ewig langes Modell für die Beziehungen von Machtapparat und Gesellschaft vorgibt. Die Politiker, die bei solch einem Modell an der Macht sind, gewöhnen sich immer neuere und neuere Vollmachten und gleichzeitig an eine Verringerung des Konkurrenzfeldes. Sie haben keine äußeren Stimuli für Veränderungen. Die Gesellschaft kann in dieser Zeit schon kein akutes Bedürfnis an einer „starken Hand“ verspüren. Aber es gibt bereits diese „Hand“, die Projektion der einstigen Wünsche. Und sie „lenkt weiter die Handlungen des russischen Menschen“.