Die sich entwickelnde geopolitische Krise hat erneut akut die Frage nach dem Einfluss der Geopolitik auf die Wissenschaft aufgeworfen. Die meisten internationalen Abkommen Russlands im Wissenschaftsbereich unter Beteiligung westlicher Länder sind gelöst worden. Inklusive der Vereinbarungen, die mit der Nutzung der wissenschaftlichen Infrastruktur verbunden waren. Zur gleichen Zeit aber haben die meisten westlichen Länder nicht begonnen, die Partnerschaften auf individueller Ebene einzuschränken. Und die Redakteure und Herausgeber wissenschaftlicher Fachzeitschriften haben es im Großen und Ganzen abgelehnt, dem Aufruf zu folgen, Veröffentlichungen russischer Wissenschaftler zu boykottieren. Es gibt in dem einen und anderen Fall Ausnahmen, dies ist aber ganz bestimmt nicht der Mainstream.
Zusammen mit Kollegen aus China und Norwegen war ich einer der Autoren eines veröffentlichten Vorabdrucks (Preprints), der Problemen des Einflusses der Geopolitik auf die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit am Beispiel des Falls Russlands gewidmet war (The Influence of Geopolitics on Research Activity and International Collaboration in Science: The Case of Russia). Die Ergebnisse der Studie vermitteln umfangreiche Nahrung für Überlegungen.
Vor allem ergibt sich gesetzmäßig die Frage, in welchem Maße die geopolitische Situation die internationale Zusammenarbeit im Wissenschaftsbereich mit einer Beteiligung Russlands beeinflusste. Für die Analyse wurden Angaben vom Science Citation Index Expanded (SCI-E) – dem Index für das Zitieren hinsichtlich der genauen, Natur-, medizinischen und technischen Wissenschaften -, vom Social Sciences Citation Index (SSCI) – dem Index für das Zitieren entsprechend den Sozialwissenschaften – und vom Arts & Humanities Citation Index (AHCI) – dem Index für das Zitieren hinsichtlich der human- bzw. geisteswissenschaftlichen Disziplinen – verwendet. All diese Indexe sind Bestandteile der Web of Science Core Collection. Parallel entwickelten wir einen Teil der Grafiken auf der Gundlage von Scopus-Daten. Mit ihnen wurden die gleichen Trends beobachtet. Daher war entschieden worden, sich auf eine Datenbasis zu beschränken.
In erster Linie muss ein dramatischer Rückgang von Publikationen mit russischen Verbindungen hervorgehoben werden. Dies kann man teilweise mit dem Rückgang der Anzahl von Publikationen in Materialien internationaler Konferenzen erklären (im Web of Science ist der Einfluss der Konferenzen weniger ausgeprägt als in Scopus). Gründe dafür sind die Probleme mit den Visa und der Bezahlung der Teilnehmerbeiträge sowie die Probleme mit den Pandemie-Einschränkungen. Dies ist aber nur eine teilweise Erklärung. Mehr noch, der Anteil der russischen Publikationen hatte in der Welt bereits im Jahr 2019 begonnen zurückzugehen, was man nicht mit dem Einfluss des Konflikts in der Ukraine oder der COVID-19-Pandemie begründen kann.
Was den Anteil der russischen Veröffentlichungen mit einer internationalen Kollaboration angeht, so hat die Studie unsere Hypothese bestätigt: Geopolitische Konflikte beeinflussen nur unerheblich die langfristigen Modelle und Tendenzen der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Die russische Wissenschaft ist in einem hohen Maße in die internationale Wissenschaft integriert. Und die relative Intensität der Zusammenarbeit in den bilateralen Beziehungen bleibt eine recht stabile. Eine Ausnahme bilden jene Bereiche, wo eine große zwischenstaatliche wissenschaftliche Infrastruktur eine große Bedeutung besitzt, zum Beispiel die Particles & Fields (Teilchen und Felder).
Es gibt gleichfalls Anzeichen dafür, dass die Zusammenarbeit mit Deutschland (aber nicht mit den USA) zu einer weniger intensiven wird und sich die mit China und Indien erweitert.
Wie dem nun auch immer sein mag: In absoluten Zahlen hat sich der Umfang der Publikationen mit einer internationalen Kollaboration genauso wie auch die Anzahl der russischen Veröffentlichungen insgesamt verringert. Dabei zeigt unsere Studie, dass einzelne Forscher in verschiedenen Ländern die gemeinsame Arbeit unabhängig von zwischenstaatlichen Abkommen fortsetzen. Somit müssen wir anerkennen, dass die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit nicht so sehr und allein auf Regierungs- und institutionellen Vereinbarungen, sondern auch auf ein menschliches Zusammenwirken und direkten Kontakten beruht.
Was für Schlussfolgerungen kann man daraus für die Praxis ziehen? Erstens, die Menschen, die weiterhin gemeinsame Forschungsarbeiten unter den gegenwärtigen schwierigen Bedingungen realisieren, muss man hegen und pflegen, nicht kränken und auch auf keinen Fall entlassen. Am besten ist es, ihnen zu helfen – sowohl moralisch als auch finanziell.
Mehr noch, die Rolle von Vermittlern (in der englischen Sprache wird häufiger der Begriff „Gatekeeper“ verwendet) haben in den internationalen Beziehungen oft die Wissenschaftler wahrgenommen, die in anderen Ländern leben und arbeiten, aber mit der russischen akademischen Community Kontakte unterhalten und weiterhin online in russischen Universitäten und wissenschaftlichen Instituten arbeiten.
Außerdem bin ich fest davon überzeugt, dass es in der Wissenschaft keine „freundlichen“ und „unfreundlichen“ Länder geben kann. Sicherlich gibt es so etwas in Fragen der wirtschaftlichen und militärischen Zusammenarbeit. Aber kann denn die Physik eine freundliche und eine unfreundliche sein? Natürlich gestehe ich ein, dass es hinsichtlich dieser Regel Ausnahmen gibt. Dies ist aber nicht der Mainstream.
Zweitens, wir ändern irgendwie zu oft den Entwicklungsvektor in der Wissenschaft. Erinnern Sie sich! Noch vor einigen Jahren wurden Milliarden an Haushaltsmitteln für die Gewinnung ausländischer Wissenschaftler ausgegeben und Massen-Veranstaltungen unter den Formaten QS und Times Higher Education durchgeführt. Nunmehr ergibt sich so eine Empfindung, dass dies alles nicht DAS war und nicht in die richtige Richtung ging. Angst macht dabei ein wenig, dass beim Wechsel des Kurses die Ratgeber praktisch ein und dieselben geblieben sind.
Das Projekt „5-100“ (Anhebung des Ansehens der russischen Hochschulausbildung und mindestens fünf einheimische Universitäten unter den weltweit besten 100 entsprechend der Version angesehener internationaler Ratings) wurde mehrfach seitens der Wissenschaftler-Community kritisiert, vor allem aufgrund eines Festhaltens an rein quantitativen Indikatoren und des Nachjagens nach einem guten Platz in den Ratings. Diese Initiative hat aber ganz bestimmt positiv die Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit und eine Zunahme der Akademiker-Mobilität beeinflusst.
Folglich macht es da wohl Sinn, Anstrengungen zu unternehmen, um zumindest die verbliebenen Reste der Ergebnisse, die erreicht werden konnten, zu bewahren?