Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat in Davos die für das russische politische Ohr angenehme Formulierung „multipolare Welt“ verwendet. „Die Kernfrage lautet: Wie gelingt es uns, dass die multipolare Welt auch eine multilaterale Welt sein wird? Oder anders ausgedrückt: Wie schaffen wir eine Ordnung, in der ganz unterschiedliche Machtzentren im Interesse aller verlässlich zusammenwirken?“. Dabei ging er von der Tatsache aus: „In dieser multipolaren Welt fordern ganz unterschiedliche Länder und Regionen gemäß ihrem wachsenden ökonomischen und demografischen Gewicht größere politische Mitsprache ein“.
Die offizielle Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, bezeichnete auf ihrem Telegram-Kanal diese Worte als ein „Plagiat reinsten Wassers“, wobei sie meinte, dass das russische Auswärtige Amt darüber jedes Jahr spreche, beginnend ab Jewgenij Primakow Mitte der 1990er. Weiter führte sie wirklich Zitate des russischen Außenministers Sergej Lawrow zum Thema einer Multipolarität — nach Jahren geordnet — aus den letzten neunzehn Jahren an. „Sicherlich wird auch die Situation rund um die Ukraine irgendwann einmal für Olaf Scholz genau so klar wie auch die Multipolarität“, schrieb Sacharowa.
Für Politiker und hochrangige Sprachrohre in der Russischen Föderation ist die Versuchung groß, zu denken und zu erklären, dass man im Westen beginne, etwas mit „russischen Augen“ auf die Welt zu schauen, die „russische Wahrheit“ zu begreifen. Der Begriff „Multipolarität“ ist wirklich ein Teil des außenpolitischen Diskurses, den die russischen Diplomaten und Politiker wiedergeben. Ein überaus wichtiges Element dieses Diskurses ist die Vorstellung über die USA als ein Welt-Hegemon, aber auch über die an Stärke gewinnenden Staaten oder Staatenvereinigungen, die sich solch einer Hegemonie nicht unterordnen könnten. Einige alternative Anziehungszentren, beispielsweise Russland und China, wollen solche sein, doch man hindert sie daran (durch Sanktionen, bunte Revolution, das Aufdrängen von Standards der westlichen Demokratie). Andere Zentren, beispielsweise die Europäische Union, könnten eine größere Eigenständigkeit beim Treffen von Entscheidungen erreichen, doch durch irgendetwas verflüchtigen sie sich im Willen Washingtons. So sieht das Weltbild aus, in dem die Forderung nach einer Multipolarität eine Herausforderung für Amerika und dessen Dominanz ist.
Es ist überhaupt nicht auszumachen, dass Bundeskanzler Scholz, indem er über eine multipolare Welt spricht, genau solch ein Bild von der Welt sieht und vertritt. Es geht eher um eine Krise der heutigen Institute für eine internationale Kommunikation und ein gemeinsames Handeln. Die Türkei verfolgt ihre, eine recht aktive und expansionistische Politik im Nahen Osten, im Mittelmeerraum, im Kaukasus und in Zentralasien. Sie stört, Schweden und Finnland in die NATO aufzunehmen. Frankreich hat in Afrika Interessen, die durch seine imperial-koloniale Vergangenheit bedingt werden, die beispielsweise Deutschland nicht hat. London schaut auf den Ukraine-Konflikt nicht ganz so, wie Berlin, Paris oder Rom sehen. Was soll man da sagen, wenn man über die Grenzen der westlichen Welt hinausgeht, sich die arabischen Länder, China, den Iran und – ja – auch Russland anschaut.
Die Schlussfolgerungen, die ein westlicher Politiker ziehen kann, der die Multipolarität „begriffen hat“, werden sich ganz und gar nicht unbedingt mit den Schlussfolgerungen der russischen Herrschenden decken. Scholz oder Emmanuel Macron werden wohl kaum die Allianz ihrer Staaten mit den USA in den Kategorien einer Abhängigkeit wahrnehmen, sich politisch oder wirtschaftlich als unselbständige auffassen. Die europäischen Politiker werden eher, genauso wie auch die US-amerikanischen, mit ein und demselben inneren Konflikt konfrontiert, während in der Welt solche Ereignisse wie in der Ukraine heutzutage geschehen. Einerseits ist da die wirtschaftliche Pragmatik, die jegliche Sanktionen zu für alle schädlichen machen. Andererseits sind da die deklarierten Werte, die ein westlicher Politiker nicht demonstrativ verwerfen kann.
Wenn der Spitzenvertreter eines europäischen Landes von Multipolarität bzw. einer multipolaren Welt spricht, so hat er eher die westliche Zivilisation als eine der positiven Seiten im Blick. Und eine Umgestaltung der internationalen Kommunikation bedeutet in seinem Verständnis eine Propagierung und Durchsetzung der westlichen Werte auf einem anderen Wege, möglicherweise einem komplizierteren. Dies bedeutet allerdings keine Aufgabe der Werte oder ein Konflikt mit Washington. Wie es auch nicht eine Anerkennung des Rechts für andere Zentren der Stärke (Machtzentren) bedeutet, so zu handeln, wie sie wollen (was wohl Moskau gern würde).