Der Leiter des Rates für Menschenrechtsfragen beim Präsidenten der Russischen Föderation, Valerij Fadejew, hat Wikipedia, die Internet-Enzyklopädie, als ein „ideologisches, politisiertes Produkt“ bezeichnet. „Man muss so schnell wie möglich eine Alternative schaffen und Wikipedia dichtmachen“, erklärte er in Moskau auf einer Pressekonferenz. „Noch einmal, damit Sie es verstehen: Ich rufe nicht auf, es morgen zu schließen. Aber natürlich muss man sich zu einer Schließung von Wikipedia bewegen… Da gibt es gelinde gesagt viele Entstellungen, wenn es um Politik geht, um Geschichte. Ja, es gibt da aber derartige einfache Sachen, die bequem sind“.
Der letzte Satz des Ex-Journalisten Valerij Fadejew ist als ein Anerkennen des komfortablen Charakters von Wikipedia für die Nutzer zu verstehen, aber das, was von ihm oben gesagt wurde – als Eingeständnis dessen, dass es unmöglich ist, schnell und qualitätsgerecht ein alternatives Internet-Labyrinth von Wissen zu etablieren. Beiträge für Wikipedia kann jeder beliebige schreiben und redigieren. Aber um strittige Momente inklusive der Schreibweise von Namen und Nachnamen erfolgen in speziellen Foren wahre Auseinandersetzungen. Gerade so gelang es auch, die Internet-Enzyklopädie zu schaffen und zu entwickeln.
Wie kann aber eine russische Alternative aussehen? Entweder ein von Null an geschaffenes analoges Nachschlagewerk, was Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird, oder eine Kopie von Wikipedia mit alternativen, ideologisch überprüften und entsprechend dem Standpunkt der russischen Herrschenden formulierten Beiträgen, die der russischen Geschichte (derzeit ist es bereits sinnlos, einen Zeitraum festzulegen) und der Politik der neuesten Zeit gewidmet sind. Wahrscheinlich ist es einfacher, dies zu tun. Wissen und Kenntnisse verflechten sich aber auf wundersame Art und Weise. Und wenn du einen Beitrag im „richtigen“ Sinne umschreibst, wirst du unweigerlich gezwungen sein, noch ein weiteres Dutzend umzuschreiben. Und so weiter. Ein Weg mit einer Länge von genauso vielen Jahren.
Die Idee einer Importsubstitution von Wikipedia ist sehr fruchtbar, wenn man die gewohnten russischen Praktiken nimmt. Für die Offiziellen, die Gelder für unterschiedliche gesellschaftlich nützliche Projekte bereitstellen, kann der Vorschlag, ein analoges Produkt zu irgendeinem „schädlichen“ ausländischen Produkt zu schaffen, als ein attraktiver erscheinen. Und weiter werden Gruppen von Menschen gebildet, die bereit sind, den Etat zu realisieren. Der Prozess kann aber ein endloser sein, wie die Gestaltung einer lichten Zukunft.
Der Plan zum schrittweisen Verzicht auf Wikipedia erinnert strukturell an die in den europäischen Ländern formulierten Pläne für einen Verzicht auf russische Energieträger. Anders gesagt: Es gibt eine bequeme und beim Erhalt von Wissen einfache Ressource, es wird aber aufgrund ideologischer Ursachen unschicklich, sie zu nutzen. Allerdings muss angemerkt werden: Es gibt keinen Plan als solchen. Ein Plan sieht eine festgeschriebene Organisierung der Arbeit vor – nach Monaten, nach Jahren. Valerij Fadejew hat lediglich ein Ziel verkündet: Ein Informationsfenster schließen und an dessen Stelle irgendein anderes zu öffnen.
Es war schon einmal dazu gekommen, dass Wikipedia durch die türkischen Behörden vor dem Hintergrund von Aktionen gegen Erdogan blockiert wurde. Die Internet-Enzyklopädie wurde als ein soziales Netzwerk aufgefasst, das man für eine massenhafte Verbreitung „falscher“ Informationen unter Bedingungen politischer Unruhen ausnutzen konnte. In Russland geht es um Prozesse einer anderen Dauer, um ein Produkt des täglichen Gebrauchs. Informationen suchen in Wikipedia alle, angefangen bei den Schülern. Gerade sie können feststellen, dass das von ihnen erhaltene Wissen aus der Internetenzyklopädie in etwas (oder in Vielem) dem vereinfachten Bild des Schullehrbuchs widerspricht. So kommt es im Übrigen auch in allen Gesellschaften vor. Aber dort, wo ein Kampf für eine ideologische Ausgewogenheit oder gar Gleichschaltung erfolgt, wird eine alternative Sichtweise zu einem Problem staatlicher Wichtigkeit.
Internetressourcen wollen in der Regel die Vertreter von Rechtsschutz- und Sicherheitsorganen dichtmachen. Sie legen das Schwergewicht darauf, dass das wichtigste Recht des Menschen das Recht auf Sicherheit sei, darunter auf eine ideologische. Man sollte glauben, dass man im Präsidialrat für Menschenrechtsfragen einen alternativen Standpunkt zu den Menschenrechten als solche unterbreiten muss. Beispielsweise, indem die Aussage des 29. Artikels der Verfassung über das Recht, Informationen zu erhalten und zu verbreiten, wiederholt wird. Es ergibt sich da aber, dass die Menschenrechtler beim Präsidenten lediglich einen komplizierteren Weg zum Verbot von Internetressourcen vorschlagen.
Post Scriptum:
Der Vorschlag von Valerij Fadejew findet natürlich auch Widerstand und Kritiker. Der Staatsduma-Abgeordnete Alexander Khinstein (Kremlpartei „Einiges Russland“) erklärte beispielsweise, dass man wegen einiger hundert strittiger bzw. falscher Wikipedia-Beiträge nicht die gesamte Internet-Enzyklopädie blockieren könne. Unklar ist übrigens auch, was in Russland mit dem Zugang zu den Versionen von Wikipedia in andere Sprachen werden wird.
Derweil hat am Donnerstag in Moskau die erste von drei für April geplanten Gerichtsverhandlungen gegen die Wikimedia Foundation Inc. aufgrund einer Nichtentfernung von Informationen über einen angeblich extremistischen Song der Gruppe „Psyche“ stattgefunden. Erwartungsgemäß gab es einen Schuldspruch und die Festlegung einer Geldstrafe von 800.000 Rubel (umgerechnet etwa 9046 Euro). Rubelstrafen sind für die Wikimedia Foundation in Russland bereits eine gewohnte Sache geworden. Im November des Jahres 2022 und im Februar dieses Jahres erhielt die Internet-Ressource jeweils 2-Millionen-Rubelstrafen wegen der Nichtentfernung von angeblichen Fakes über die Handlungen der russischen Streitkräfte im Ukraine-Konflikt.