Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Will unsere Gesellschaft Veränderungen?


In Russland haben wieder einmal Regionalwahlen stattgefunden. Alle, die es brauchten, erhielten eine hohe Stimmenzahl. Und das Leben geht weiter…

Wenn das hauptsächliche ideologische Bedürfnis und die entsprechende Message der Offiziellen bei den Wahlen die Forderung nach einer Konsolidierung der Gesellschaft rund um die Herrschenden war, so ist es klar, dass dies die Offiziellen voll und ganz erhalten, 70 bis 90 Prozent der Stimmen der Bürger. Die Menschen bei uns sind aus Systemgründen nicht gegen die Herrschenden als solche. Aber von den Wahlen einen Prozess einer kollektiven Suche nach Lösungen für die aktuellsten Probleme der Regionen/Städte/Kreise/des Landes bei solch einer Konstruktion des Bedürfnisses zu erwarten, dies ist nicht möglich. Denn es bewegt sich die Forderung einer metaphysischen/existenziellen Wichtigkeit – die nach der Bewahrung der russischen Staatlichkeit an sich – weiter voran. Und die gegenwärtigen Probleme der Menschen erscheinen da als kleine, nichtige, egoistische und spießbürgerliche. Wie kannst du nur über deine eigenen Einkommen denken, während die Existenz des Staates an sich in Frage gestellt wird? Die Heroisierung der Agenda führt die Gesellschaft von einer Analyse der funktionellen Existenzprobleme weg.

Zum Ergebnis wird die Variante des Lebens sowjetischen Typs, eines geschlossenen, einheitlichen, monolithischen und problembeladenen auf dem Alltagsniveau. Mit Einsprengseln eines Dissidententums unterschiedlichen Couleurs. Das ganze sowjetische Modell war ein transitartiges, vom Zarismus zum Kommunismus, in dem es doch auch keinerlei Probleme geben wird. Da der antagonistische Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital verschwindet. Lenin hatte im Bewusstsein der Massen vereinfachte Losungen verankert, die von den folgenden Generationen der Parteiführer unterstützt wurden: von der Leninschen Devise „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ bis zu der von Chruschtschow „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Chemisierung des ganzen Landes“. Ich eignete mir diese Losung anhand des entsprechenden Etiketts einer Streichholzschachtel an, die ich heimlich als Schüler der zweiten Klasse in der Jackentasche in die Schule mitgenommen hatte.

Bei solch einer „gesamtplanetarischen“ Herangehensweise während der Wahlkampagne unterstützen die Vertreter der Machtinstitute keine inhaltliche Erörterung aktuellster Probleme der jeweiligen Region. Beispielsweise war viel davon die Rede, dass in Dagestan, Inguschetien und Tschetschenien die akutesten Probleme auf dem Gebiet der Beschäftigung bestehen. Wer hat denn da Varianten für die Lösung der Probleme bei der Schaffung von Arbeitsplätzen in der Region unter Berücksichtigung der Alters- und Geschlechter-Struktur der Nichtbeschäftigten vorgeschlagen? Ist vorgeschlagen worden zu untersuchen, wie das Fehlen adäquater und attraktiver Arbeitsplätze den Exodus junger Menschen im besten arbeitsfähigen Alter aus der Region beeinflusst? Zumal dieses erlauben würde, ein regionales Bruttoprodukt bester Qualität zu schaffen.

Es ist offensichtlich, dass das Bedürfnis nach einer Konsolidierung keinen Machtwechsel vorsieht. Man kann sich nicht um etwas konsolidieren, was du nicht kennst. Damit enthält solch eine Konstruktion der Wahlen einen Verzicht auf Veränderungen. Und dies ist das größte Risiko für die gesamte heutige russische Gesellschaft. Das Bedürfnis nach Veränderungen existiert in den Menschen a priori, man kann gar sagen entsprechend dem Gesetz der Aufwertung der Bedürfnisse. Es seien jene daran erinnert, die das Studium der Sozialwissenschaften verpasst haben, dass dies eines der fundamentalen Gesetze für die gesellschaftliche Entwicklung ist. Daher erklärt gerade dieses Gesetz die Veränderung dessen, was die Gesellschaft als eine Norm ansieht. Wobei ein Auto, ein Kühlschrank, ein Fernseher oder ein Wochenendhaus Luxus sind (die UdSSR der 1950er Jahre) und es einen minimalen Standard für jeden gibt. Heutzutage kann man zu den Konsum-Standards den Zugang zum Internet, zu sozialen Plattformen, Reisen ins Ausland sowie zu ausländischen Büchern und Lehrbüchern rechnen. Und die Vorstellung von einer Norm ist ein entscheidender Indikator für das politische Barometer.

Der Versuch, unter dem Deckmantel von Konservatismus und sogenannter traditioneller Werte die Gesellschaft von diesen Standards für eine Normalität abzuschneiden, ist ein Weg zu Reaktionärem.

Vom Wesen her müssen Wahlen auch eine allgemein anerkannte Plattform sein, auf der die Nuancen für die weitere Vorwärtsbewegung bestimmt werden.

Man kann nicht sagen, dass unseren Menschen Veränderungen als solche zuwider sind. Nein, dem ist ganz und gar nicht so. Wenn die Offiziellen nicht auf ihre ursprüngliche Entscheidung beharren, werden die Menschen für Veränderungen votieren. Und mitunter auf recht paradoxe Art und Weise. In Bratsk hatte man beispielsweise gegen den Bürgermeister (einen ehemaligen Offizier des Inlandsgeheimdienstes FSB) einen Kandidaten ins Rennen geschickt, den man in den einheimischen sozialen Netzwerken ständig mit großen Herstellern von alkoholischen Getränken in Verbindung bringt. Beide sind Mitglieder der Kremlpartei „Einiges Russland“, und beiden drohte nicht, dass man sie aus dem Rennen nimmt. Und der Wähler votierte für den Newcomer mit Verbindungen zu Menschen aus der Spirituosen-Community. Ungeachtet der wahrscheinlichen Risiken einer Erweiterung des Zugangs zu alkoholischen Getränken in dieser Arbeiterstadt.

Mir scheint, dass der Fall von Bratsk für den morgigen Tag des ganzen Landes ein bezeichnender und symptomatischer ist, wenn die Herrschenden nach wie vor an die neuen Wahlen mit einer noch stärker gepushten existenziellen Entscheidung herangehen, wobei sie die aktuelle Agenda vor Ort ignorieren. Denn wir brauchen Veränderungen! Aber nicht jede beliebigen. Sondern nur jene, die den Weg in ein eine moderne und progressive Zukunft bahnen, die auf neuen Standards für die Normalität beruht.