Die Ukraine begeht am 24. August zum 31. Mal den Jahrestag der Proklamierung der Unabhängigkeit. 97 Prozent der Bürger des Landes würden auch heute solch eine Entscheidung unterstützen, ergab eine Meinungsumfrage, die die in Kiew ansässige soziologische Gruppe „Rating“ am 17. und 18. August vorgenommen hatte. Im vergangenen Jahr lag diese Zahl noch bei 80 Prozent und im Jahr 2012 gar bei 62 Prozent. Eine beeindruckende Zahl angesichts dessen, dass die russische Militäroperation in der Ukraine bereits ein halbes Jahr andauert.
Der 31. Jahrestag ist kein rundes Jubiläum, so dass das offizielle Kiew in diesem Jahr auf große Veranstaltungen aus diesem Anlass verzichtete. Und der Angriffskrieg des Nachbarlandes erfordert überdies eine Mobilisierung aller Kräfte und Reserven. Ungeachtet der damit verbundenen Entbehrungen und der großen Verluste – etwa 9000 Menschen gelten offiziell auf der ukrainischen Seite als gefallene, obgleich diese Zahl weit von der Realität entfernt zu sein scheint – meinen 74 Prozent der Ukrainer, dass sich das Land in einer richtigen Richtung entwickele, wobei die Mehrheit ihr Land in der Zukunft als ein freies, unabhängiges und reiches sieht.
Wohl ausgehend davon, formulierte Präsident Wladimir Selenskij seine Grußadresse zum Unabhängigkeitstag der Ukraine, deren Wortlaut die Redaktion von „NG Deutschland“ nachfolgend in einer Übersetzung wiedergibt:
„Ein freies Volk der unabhängigen Ukraine!
Und damit ist alles gesagt. Mit ganzen vier Worten. Aber wie viel steht heute hinter ihnen. Am 182. Tag des großangelegten Krieges. Wie viele Symbole und Gedanken, Heldentaten und Verluste, Freude und Schmerz sind in diesen Worten. Und das Wichtigste – wie viel Wahrheit ist in ihnen! Unserer Wahrheit. Der Wahrheit über unsere Gegenwart, mit der man nicht streiten kann, denn es ist nicht möglich, sie nicht zu sehen und nicht anzuerkennen. Wir sind ein freies Volk der unabhängigen Ukraine. Nach sechs Monaten, in denen man uns zu vernichten versucht, sind wir ein freies Volk der unabhängigen Ukraine.
Vor einem halben Jahr erklärte uns Russland den Krieg. Am 24. Februar vernahm die gesamte Ukraine Explosionen und Schüsse. Und der 24. August sollte nicht die Worte „zum Tag der Unabhängigkeit“ vernehmen. Am 24. Februar hatte man uns gesagt: Sie haben keine Chancen. Am 24. August sagen wir: zum Tag der Unabhängigkeit, Ukraine!
In diesen sechs Monaten haben wir die Geschichte verändert, haben wir die Welt verändert, und wir selbst haben uns verändert. Jetzt wissen wir genau, wer für uns wirklich ein Bruder und ein Freund ist. Und wer gar kein zufälliger Bekannter ist. Wer seinen Namen und sein Ansehen nicht verloren hat, wer sich darüber besorgte, dass die Terroristen das Gesicht wahrten. Wem wir tatsächlich nicht nötig sind und wo für uns die Türen wirklich offen sind. Wir haben begriffen, who is who. Und die ganze Welt hat erfahren, wer die Ukrainer sind. Und was die Ukraine ist. Keiner wird mehr über sie sagen: Dies ist irgendwo dort, neben Russland.
Wir haben begonnen, uns zu achten. Wir haben begriffen, dass ungeachtet jeglicher Hilfe und Unterstützung keiner außer uns unsere Unabhängigkeit mit aller Macht verteidigen wird. und wir haben uns vereint.
Wir hatten noch keine HIMARS gehabt. Aber wir waren Menschen gewesen, die bereit sind, mit bloßen Händen Panzer aufzuhalten. Man für uns nicht bereit gewesen, den Luftraum zu schließen. Wir hatten aber Menschen, die bereit waren, durch sich selbst den heimatlichen Boden zu schützen.
Das ukrainische Volk und sein Mut haben die ganze Welt inspiriert, haben der Menschheit eine neue Hoffnung gegeben, dass die Gerechtigkeit unsere zynische Welt nicht endgültig verlassen hat. Und in ihr siegt immer noch nicht Stärke, sondern die Wahrheit, nicht das Geld, sondern Werte, nicht Erdöl, sondern Menschen.
Gestern noch war die Welt keine geschlossene gewesen. COVID-19 hatte deutlich gezeigt: jeder für sich selbst. Innerhalb von sechs Monaten hat die Ukraine dies verändert. In allen internationalen Geschichtslehrbüchern wird es das Kapitel „Zeiten, in denen die Ukraine die Welt vereinte“ geben. Als der Demokratie erneut Zähne wuchsen, in denen eine Tyrannei in der Sprache eine Antwort erhält, die sie versteht.
Irgendwer sagte: Europa sei kein Player mehr. Es sei ein schwaches, entzweites, passives und schläfriges. Die Ukraine hat den ganzen Kontinent aufgewühlt. Europa kommt auf die Plätze. Europa verhängt harte Sanktionen. Europa erkennt einmütig an: Die Ukraine ist ein künftiges Mitglied der Europäischen Union.
Das Big Business hat begriffen, dass Geld doch riecht (lateinisch: Pecunia olet.) nach Blut, Verbranntem, dem Tod. Konzerne und Marken verlassen den russischen Markt. Und die Menschen sind wichtiger als potenzielle Verluste geworden.
Noch nie hatte die Meinung der Öffentlichkeit in der Welt solch einen Einfluss auf die Politiker. Heute diktieren die Menschen den Offiziellen Trends und Verhaltensregeln. Gleichgültig, inaktiv und langsam zu sein, ist beschämend. Unentschlossen und zu vorsichtig zu sein, ist beschämend. Träge, vage und zu diplomatisch zu reden, ist beschämend. Die Ukraine nicht zu unterstützen, ist beschämend. Und zu sagen, dass durch die Ukraine Müdigkeit aufgekommen sei, ist beschämend. Dies ist eine sehr bequeme Position: Müdigkeit, dies ist eine Abschirmung, um die Augen zu verschließen. Und heute hören wir von den Staats- und Regierungschefs der Welt und von gewöhnlichen Bürgern: Wir werden mit Ihnen bis zum Ende, bis zum Sieg sein.
Sehr geehrtes Volk,
wir haben stets alle Kämpfer für die Unabhängigkeit in Ehren gehalten, haben diesen Tag als den wichtigsten Feiertag bezeichnet, und die blau-gelbe Flagge – als ein Heiligtum. Wir haben die Hand ans Herz gelegt, die Hymne gesungen und stolz ausgerufen „Ruhm der Ukraine!“ und „Ruhm den Helden!“.
Am 24. Februar ist es uns zugefallen, die Worte durch Taten zu bestätigen. An diesem Tag erfolgte faktisch ein zweites gesamtukrainisches Referendum. Erneut stand die Hauptfrage, erneut stand die bestimmende Entscheidung. Dieses Mal musste man aber nicht der Unabhängigkeit auf dem Stimmzettel ein JA sagen, sondern in der Seele und im Gewissen. Man musste nicht in die Abstimmungslokale gehen, sondern in die Militärkomitees, die Territorialverteidigung, die Freiwilligen-Bewegung, die Informationstruppen oder einfach standhaft und gewissenhaft an seinem Platz mit voller Kraft, für das gemeinsame Ziel arbeiten.
Wir alle haben uns verändert. Der eine oder andere wurde ein zweites Mal geboren. Als ein Mensch, eine Persönlichkeit, ein Bürger, ein Patriot, einfach als ein Ukrainer. Und dies ist natürlich eine gute Nachricht. Irgendwer ist verschollen. Nicht ums Leben gekommen, nicht gestorben, sondern hat sich aufgelöst. Als ein Mensch, eine Persönlichkeit, ein Bürger, als ein Ukrainer. Und dies ist in der Tat ebenfalls keine schlechte Nachricht. Wir werden uns nicht mehr einander stören.
Wir haben eine Entscheidung getroffen. Für irgendwen ist die Mariupol. Und für einen anderen – Monaco. Wir wissen aber, wer mehr sind. Und wir sind endlich zu wirklich vereinten geworden. Eine neue Nation, die am 24. Februar, um 4.00 Uhr morgens die Welt erblickte. Sie wurde nicht geboren, sondern wiedergeboren. Eine Nation, die nicht weinte, die nicht heulte, die keine Angst hatte, nicht weggelaufen ist, sich nicht ergeben hat. Und die nicht vergessen hat.
Diese Flagge wird überall sein, wo sie zu Recht sein muss. Sowohl im Donbass als auch auf der Krim. Der Feind hatte gedacht: Wir werden ihn mit Blumen und Sekt empfangen. Anstelle dessen erhielt er Kränze und Molotow-Cocktails. Er hatte Ovationen erwartet, hört aber „dumpfe Explosionen“.
Der Okkupant hatte geglaubt, dass er einige Tage später im Paradeschritt im Zentrum unserer Hauptstadt herumlaufen wird. Heute kann man auf dem Krestschatik diese „Parade“ sehen. Den Beweis dafür, dass die feindliche Technik nur in solch einer Form im Zentrum Kiews auftauchen kann. Als eine ausgebrannte, zerstörte und vernichtete.
Für uns ist unwichtig, was für eine Armee Sie haben. Für uns ist wichtig, was für einen Boden, was für ein Land wir haben. Wir werden für dieses bis zum Ende kämpfen. Wir halten sechs Monate stand. Für uns ist es schwer. Wir haben aber die Fäuste zusammengeballt und ringen um unser Schicksal. Jeder neue Tag ist ein neuer Grund, nicht aufzugeben. Denn, nachdem wir so viel durchgemacht haben, haben wir kein Recht, nicht bis ans Ende zu gehen. Was ist für uns ein Ende des Krieges? Früher haben wir gesagt: ein Frieden. Heute sagen wir: ein Sieg.
Wir werden kein gegenseitiges Einvernehmen mit Terroristen suchen. Obgleich wir die russische Sprache verstehen, die Sie zu verteidigen gekommen sind. Und sie haben tausende Menschen umgebracht, die sie zu befreien gekommen waren.
Und für uns ist Johnson weitaus mehr verständlich und nahe, der Englisch spricht, als Mörder, Gewalttäter und Plünderer, die all dies auf russische Art getan haben.
Und wir werden uns nicht aus Furcht und mit einer Pistole an der Schläfe an den Verhandlungstisch setzen. Für uns sind das schrecklichste Eisen nicht Raketen, Flugzeuge, Panzer, sondern Ketten. Nicht Schützengräben, sondern Fesseln.
Und wir werden nur einmal die Hände erheben, wenn wir unseren Sieg feiern werden. In der gesamten Ukraine. Denn wir treiben mit unserem Land und unseren Menschen keinen Handel. Für uns ist die Ukraine die gesamte Ukraine. Alle 25 Regionen, ohne irgendwelche Zugeständnisse oder Kompromisse. Wir kennen diese Worte nicht. Sie sind am 24. Februar durch Raketen zerstört worden.
Der Donbass, dies ist die Ukraine. Und wir werden sie zurückholen, wie immer auch der Weg dafür sein mag. Die Krim, dies ist die Ukraine. Und die werden wir zurückholen. Wie immer auch dieser Weg aussehen mag. Sie wollen nicht, dass Ihre Soldaten ums Leben kommen? Geben Sie unseren Boden frei! Sie wollen nicht, dass Ihre Mütter weinen? Geben Sie unseren Boden frei! Ja, solche einfachen und verständlichen sind unsere Bedingungen.
Freies Volk der unabhängigen Ukraine!
Wir begehen diesen tag an unterschiedlichen Orten. Der eine in Schützengräben und Unterständen, in Panzern und Schützenpanzerwagen, auf der See und in der Luft. Kämpft um die Unabhängigkeit in der vordersten Frontlinie. Irgendwer – auf der Straße, in Autos, LKWs und Zügen. Kämpft um die Unabhängigkeit, indem er denjenigen das Nötige bringt, die an der vordersten Frontlinie sind. Und irgendwer – im Smartphone oder am Computer. Und er ringt ebenfalls um die Unabhängigkeit, indem er Mittel sammelt, damit diejenigen, die unterwegs sind, etwas denjenigen zu befördern haben, die an der vordersten Frontlinie sind.
Wir begehen diesen Tag unter unterschiedlichen Umständen, Bedingungen und gar in verschiedenen Zeitzonen, aber mit dem einzigen Ziel – die Bewahrung der Unabhängigkeit und den Sieg der Ukraine!
Wir haben uns vereint! Zum Tag der Unabhängigkeit, Ukraine! Ruhm der Ukraine!“.
Zum Unabhängigkeitstag der Ukraine haben London und Washington neue militärische Hilfe für Kiew angekündigt. Großbritannien will eine neues 54-Millionen-Punds-Paket bereitstellen. Und die Vereinigten Staaten gaben bekannt, dass sie ein neues Paket im Umfang von fast drei Milliarden Dollar geschnürt hätten. In Moskau ist man darüber überhaupt nicht erbaut, da damit die Kampfhandlungen in die Länge gezogen werden. Ganz zu schweigen von neuen Opfern und Zerstörungen.
PS.
Wie folgt aus dem Brief des ukrainischen Verteidigungministeriums an den Sekretär des Nationlen Rates der Sicherheit von 6.08.2022 betragen die Verluste der ukrainischen Armee zum Stand Juli 2022:
getötet 76640 Personen
verwundert 42704
im Gefangeschaft 7244
fehlen 2816
andere 1610