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Wirrwarr um die Rubelzahlungen für russisches Gas in Europa vor dem Hintergrund der ersten Rosstat-Zahlen in der Epoche der „Sonderoperation“


In der letzten Aprilwoche hat Russlands Statistikamt Rosstat Wirtschaftsindikatoren für den ersten kompletten Monat seit Beginn der sogenannten militärischen Sonderoperation in der Ukraine veröffentlicht. Im März demonstrierte die Industrieproduktion vor dem Hintergrund der hohen Öl- und Gaspreise einen Zuwachs um drei Prozent im Vergleich zum analogen Zeitraum des Vorjahres und um 9,9 Prozent im Vergleich zum Februar dieses Jahres.

Nach Einschätzung des Ministeriums für Wirtschaftsentwicklung verlangsamte sich das Wachstum der russischen Wirtschaft bis auf 1,6 Prozent auf das Jahr hochgerechnet im Vergleich zu den 4,3 Prozent im Februar. Und insgesamt machte das Wachstum im I. Quartal 3,7 Prozent aus. Für die Bilanz des Jahres erwartet das Ministerium einen Rückgang des BIP von 8,8 bis 12,4 Prozent.

Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Verschlechterung setzte die Zentralbank Russlands die Senkung des Leitzinses vor, dieses Mal gleich um drei Prozentpunkte bis auf 14 Prozent. Und die Regierung von Premier Michail Mischustin verstärkt derweil die Maßnahmen für eine Unterstützung des Business und der Bevölkerung aus dem Staatshaushalt.

In der letzten Aprilwoche kündige Präsident Wladimir Putin einen Beschluss über einen einjährigen Aufschub der Zahlung der Versicherungsbeiträge für mehr als 2,8 Millionen Unternehmen an, und etwas später unterzeichnete Kabinettschef Mischustin eben diesen Beschluss. Einen Aufschub im II. Quartal (für den Zeitraum April-Juni) 2020 werden Unternehmen aus Branchen des realen Wirtschaftssektors, aus Wissenschaft und Kultur, des Sports und Freizeitbereichs sowie andere. Ausgenommen sind Exporteure, Unternehmen des Finanzsektors und des Großhandels.

Und mehr als 1,2 Millionen Unternehmen, die für den Binnenmarkt arbeiten und die Bevölkerung mit notwendigen Waren und Leistungen versorgen, werden einen Aufschub auch für das III. Quartal (für den Zeitraum Juli bis September) erhalten. Es geht dabei um Verarbeitungsbetriebe, die Bereiche Landwirtschaft und Bauwesen sowie die Sektoren IT, Telekommunikation und einige andere.

„In der Gesamtheit wird die Maßnahme erlauben, 1,6 Billionen Rubel freizusetzen, die die Wirtschaft für eine Neuausrichtung der Produktion, Logistik und andere laufende Ausgaben einsetzen kann“, erläuterte der Minister für Wirtschaftsentwicklung Maxim Reschetnikow.

Finanzminister Anton Siluanow betrachtet diese Summe als einen Verlust für den Etat in diesem Jahr. Das Haushaltsdefizit der Russischen Föderation des Jahres 2022 könne mindestens 1,6 Billionen Rubel ausmachen, meint Siluanow. Die wegfallenden Einnahmen der staatlichen Nichtetatfonds werden durch Gelder des föderalen Haushaltes kompensiert werden, der sie im Fonds für nationalen Wohlstand erhalten wird. Siluanow kündigte auch die Vorbereitung einer neuen Haushaltsregel an, der entsprechend der Fonds für nationalen Wohlstand gebildet wird. Die neue Konstruktion werde davon ausgehen, dass der Fonds nicht mit Devisen wie früher, sondern mit Rubeln aufgefüllt werde.

Laut Rosstat-Angaben sind im I. Quartal die real zur Verfügung stehenden Einnahmen der Bevölkerung ins Minus um 3,6 Prozent auf das Jahr hochgerechnet abgerutscht. Entsprechend einer Prognose des Ministeriums für Wirtschaftsentwicklung werden sie im Basisszenario in diesem Jahr um 7,8 Prozent einbrechen. Und im konservativen – um 9,7 Prozent. Und dies nach einer Zunahme um drei Prozent im vergangenen Jahr. Den Hauptschlag gegen die Geldbörsen versetzt die galoppierende Inflation. Das Ministerium prognostiziert einen Anstieg der Verbraucherpreise im Jahr 2022 um 20,7 bis 22,6 Prozent, was bereits 5mal mehr ist als das fast vergessene „Target“ von vier Prozent und beinahe dreimal mehr als im Jahr 2021 (8,39 Prozent). Interessant dabei ist, dass die staatliche TV-Kanäle und anderen kremlfreundlichen Medien nicht darüber umfangreich berichten, sondern darüber, wie die westlichen Sanktionen den Menschen in EU und USA das Leben schwer machen. Dies wird aber im Westen nicht bestritten, während die eigenen russischen Wirtschaftsprobleme ordentlich unter den Teppich gekehrt werden.

Vor diesem Hintergrund unternehmen die Herrschenden den Versuch (ob mit Erfolg oder ohne – ist eine andere Frage), die Einkommen der Bevölkerung durch soziale Beihilfen zu unterstützen. Am 1. Mai hat in der Russischen Föderation die Annahme von Anträgen für neue Hilfszahlungen für Familien mit Kindern im Alter acht bis einschließlich 16 Jahren begonnen, wovon freilich viele potenzielle Empfänger nichts wissen. Der Umfang der monatlichen Beihilfen beträgt 50 Prozent vom Existenzminimum für ein Kind. Im Durchschnitt sind dies im Land rund 6.150 Rubel (umgerechnet etwa 82 Euro). Allerdings ist in Abhängigkeit von der materiellen Lage der Familie eine Abstufung der Zahlungen vorgesehen.

„In der nächsten Zeit werden konkrete Entscheidungen zur Indexierung der Renten, aller sozialen Beihilfen, aber auch der Löhne und Gehälter von Spezialisten, die im Budget-Bereich beschäftigt sind, getroffen“, versprach Wladimir Putin am 27. April bei einer Tagung des Rates der Gesetzgeber in Petersburg.

In der letzten Aprilwoche begann auch praktisch das neue Schema für Gaslieferungen in die sogenannten unfreundlichen Länder zu funktionieren. Nachdem bis zum Ende des Arbeitstages des 26. Aprils „Gazprom Export“ keine Zahlungen für die Gaslieferungen im April in Rubeln von den Unternehmen „Bulgargaz“ (Bulgarien) und PGNiG (Polen) erhalten hatte, wurden gemäß dem entsprechenden Erlass des Präsidenten die Gaslieferungen in diese beiden Länder „bis zum Zeitpunkt der Vornahme der Zahlungen entsprechend den Modalitäten, die durch den Erlass festgelegt wurden“, eingestellt, teilte der russische Exporteur mit.

Hinsichtlich des neuen, von Moskau aufgezwungenen Zahlungsschemas ist in Europa keine konsolidierte Entscheidung ausgearbeitet worden. Und es werden recht widersprüchliche Erklärungen abgegeben. Ungarn mit dem russlandfreundlichen Premier Viktor Orbán und Österreich erklärten, dass sie keine Probleme in der Bezahlung mit Rubeln sehen würden. Mehr noch, nach ihrer Meinung würde das Schema nicht die westlichen Sanktionen gegen Russland verletzen. Der deutsche Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) schrieb derweil am Samstag im Internet, dass Deutschland nicht in Rubeln zahlen werde. Einen Tag zuvor war auch der tschechische Premier Petr Fiala mit solch einer Erklärung aufgetreten. Experten betonen, dass die „zweite Welle“ der Einstellung russischer Gaslieferungen etwa um den 20. Mai einsetzen werde.