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Wo soll die Berührungslinie der Truppen in der Ukraine verlaufen?


Der offizielle Vertreter der Volksmiliz der Lugansker Volksrepublik (LVR), Andrej Marotschko, hat in einem Livestream des russischen offiziellen TV-Auslandssenders RT erklärt, dass die Einwohner des Donbass sich ruhig fühlen könnten, wenn die Berührungslinie (der Truppen) bis zum Verwaltungsgebiet Kiew verschobene werde. „Der Gegner muss bis zum Dnepr verdrängt werden. Und dann wird man sagen können, dass wir in völliger Sicherheit sind“, sagte er. Die ukrainischen Truppen sollten nach seinen Worten keine Möglichkeit haben, Schläge gegen den Donbass aus weitreichenden Waffen zu führen.

Die militärische Sonderoperation Russlands in der Ukraine dauert bereits fast fünf Monate an. Die Vertreter der russischen Offiziellen vernehmen regelmäßig von Journalisten die Frage, wann diese Operation beendet werde. Und sie beantworten sie etwa in gleicher Art: Die militärische Sonderoperation werde beendet, wenn ihre Ziele erfüllt worden sind. Mitunter wird Konkretes hinzugefügt. So sagte jüngst Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des russischen Präsidenten, dass die Kampfhandlungen auf dem ukrainischen Territorium beendet werden würden, wenn die Kiewer Herrschenden ihren Militärs befehlen würden, die Waffen niederzulegen, und Russlands Bedingungen erfüllen würden.

Die Verteidigung des Donbass ist die erste der formulierten Ziele der Sonderoperation, die am Freitag den 142. Tag erlebt. Anfänglich erschien sie als eine durchaus konkrete. Russland hatte die Unabhängigkeit der DVR und der LVR in den Grenzen der ukrainischen Verwaltungsgebiete anerkannt (zu einem Zeitpunkt, als die Donbass-Republiken nicht einmal ein Drittel des Territoriums dieser Gebiete eingenommen hatten – Anmerkung der Redaktion). Folglich bedeuteten die Verteidigung oder Befreiung des Donbass, dass auf dem Territorium der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk keine ukrainischen Militärs sein werden. Das Erreichen der Gebietsgrenzen würde bedeuten, dass die Aufgabe erfüllt worden ist.

Es haben sich jedoch Nuancen ergeben. Zum Beispiel das Auftauchen von Gebilden in den Verwaltungsgebieten Saporoschje und Cherson, die der DVR und der LVR analog sind, das Anlegen sozusagen eines „Sicherheitskorridors“ aus dem Donbass zur Krim. Aus dem Verwaltungsgebiet Charkow erklingen gleichfalls Erklärungen über eine Wiederherstellung des friedlichen Lebens „zusammen mit der Russischen Föderation“. Andrej Marotschko spricht de facto auch von einem Sicherheitsgürtel, der einen erheblichen Teil des Territoriums der Ukraine umfasst.

Die russischen Offiziellen haben mehrfach unterstrichen – besonders während der aktiven Verhandlungen mit Kiew im Frühjahr -, dass die Russische Föderation nicht vorhätte, ukrainische Gebiete zu erobern sowie den Präsidenten und die Regierung zu stürzen. Die Verhandlungen sind seitdem (auf jeden Fall in der für das Publikum zugänglichen bzw. sichtbaren Gestalt) abgeflaut. Aber, auch Erklärungen über die Bereitschaft, „bis nach Kiew zu gehen“, waren nicht zu hören. Dennoch bekundet der offizielle Sprecher der Lugansker Miliz Marotschko wohl kaum eine besondere Meinung. Es scheint, dass er die Geisteshaltungen artikuliert, die in den Militärstrukturen des Donbass verbreitet sind, und den Erwartungshorizont – vor allem von Russland – markiert.

Im Zusammenhang damit erscheint es notwendig zu sein, sich eine Frage zu stellen (und sogar nicht eine). Anhand welcher Merkmale wird man doch bestimmen werden, dass der Donbass ausreichend gesichert ist, d. h. die Aufgabe der Sonderoperation erfüllt worden ist? Wenn das Erreichen der Grenze der Verwaltungsgebiete wenig ist, so wie sieht der Plan „A“ der russischen Führung aus? Soll die Ukraine selbst auf den Einsatz eben jener weitreichenden Waffen verzichten, indem es gewisse verbindliche Akte unterzeichnet, die durch ausländische Garantiestaaten untermauert werden? Kann man denken, dass solch eine Variante hinsichtlich der Entwicklung der Ereignisse für die russischen Herrschenden eine bevorzugte ist?

Die Sache ist die, dass die Vertreter der Lugansker Militärelite ein etwas anderes Programm vorgestellt haben. Ein Verschieben der Berührungslinie bis zum Kiewer Verwaltungsgebiet sieht keine Verhandlungen und freiwillige Akte der ukrainischen Offiziellen vor. Dies ist ein Plan zur Fortsetzung der Kampfhandlungen. Bis zum Herbst? Zum Winter? Bis zum kommenden Frühjahr? Das ist unklar. Klar ist nur, dass es um ein Vorrücken auf das Territorium der Ukraine und – was besonders wichtig ist – um eine weitere Präsenz von Truppen der Russischen Föderation dort geht. Gemäß solch einem Aktionsprogramm wird es nicht klappen, sie einfach abzuziehen.

Natürlich, nicht alle Erklärungen und Wunschvorstellungen, die in der Hitze des Gefechts artikuliert werden, sind ernst zu nehmen. Dennoch ist die eigentliche Fragestellung über die Prinzipien für die Organisierung des friedlichen Lebens und die Sicherheitsgarantien wichtig. Zu viele Interessen der Bürger auf beiden Seiten des Konflikts werden direkt tangiert.