Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Wodurch unterscheiden sich die „Grundlagen der Staatlichkeit“ vom Geschichtslehrgang


Das kremlnahe Allrussische Meinungsforschungszentrum (VTsIOM) hat Bürger des Landes zum Thema des neuen Hochschul-Studiengangs „Grundlagen der russischen Staatlichkeit“ befragt. 16 Prozent der Befragten taten sich bei der Beantwortung dieser Frage schwer, da sie objektiv erklärbar wohl nichts Konkretes über den Inhalt wussten, zumal in den Medien nichts über diesen Lehrgang detailliert berichtet worden war. 68 Prozent der Befragte störte dies überhaupt nicht und sind der Auffassung, dass die Studenten solch eine Studiendisziplin bräuchten. Auf die Frage „Wieso?“ waren vorrangig Antworten allgemeinen Charakters, Worthülsen zu vernehmen: „Die jungen Menschen müssen ihr Land kennen“ (32 Prozent), die Studenten „müssen die Geschichte ihres Landes kennen“ (24 Prozent) oder „müssen das Land lieben“ (17 Prozent). Ein Viertel der Befragten (die deutlich populärste Antwort) denkt, dass man im Rahmen solch eines Studienfachs über historische Ereignisse sowie die Bildung und Entwicklung des Staates berichten müsse.

Lediglich 16 Prozent erklärten den Soziologen, dass die „Grundlagen der russischen Staatlichkeit“ in den Hochschulen überhaupt nicht nötig seien. Ihre Haltung begründen sie meistens damit, dass dies „unnötige Informationen“ seien, „die im Leben nichts taugen“ (28 Prozent). Die von der Popularität her zweite Antwort war: „Dies ist Propaganda, ein Aufdrängen einer Meinung“ (17 Prozent). Beinahe genauso oft sprachen die Befragten (16 Prozent) davon, dass man über die Grundlagen der Staatlichkeit auch in den Unterrichtsstunden zu anderen Lehrfächern Informationen bekommen könne, beispielsweise in den Studiendisziplinen Geschichte und Gesellschaftskunde. Zwölf Prozent sind davon überzeugt, dass man in den Hochschulen entsprechend der Spezialisierung ausbilden müsse.

Letzterer Behauptung kann man zustimmen, aber auch anfechten. Gegenwärtig ist fast jegliche Hochschule bestrebt, sich Universität zu nennen. Folglich müssen sie den Studenten neben den profilbestimmenden Studiendisziplinen auch allgemeines, unter anderem auch allgemein humanitäres Wissen anbieten. Eine andere Sache ist, dass die „Grundlagen der russischen Staatlichkeit“ sowohl hinsichtlich der Form als auch hinsichtlich des Bedürfnisses eines Teils der Öffentlichkeit eine historische Studiendisziplin sind. In den Geschichtswissenschaften haben sich in den letzten 100 Jahren natürlich die Paradigmen verändert. Es hat sich beispielsweise eine anthropologische Wende vollzogen Sie hat in den Schul- und Hochschulprogrammen einen Niederschlag gefunden. Jedoch hinsichtlich des größeren Teils ist die allgemeine bzw. Weltgeschichte vor allem eine Geschichte der Staaten, von Krieg und großen Persönlichkeiten. Von daher auch die Frage: Muss man denn ein neues Lehrfach erfinden? Oder ist es ausreichend, in den Hochschulen die russische Geschichte zu unterrichten? Die Sujets sind doch die gleichen, und über die Vermittlung muss erst gar nicht gesprochen werden.

Natürlich, in jeglicher derartigen Initiative ist ein systeminternes Interesse auszumachen. Die Bürokratie kommt auch sofort in Bewegung. Und was besonders ist, auch staatliche Gelder. Zur gleichen Zeit, wenn man sich der VTsIOM-Umfrage zuwendet, ist eine Übereinstimmung interessant. 17 Prozent der Enthusiasten des Studienfachs sind doch tatsächlich der Auffassung, dass es helfen solle, den jungen Russen Patriotismus einzuimpfen. 17 Prozent der Skeptiker befürchten aber gerade eine Propaganda, eine Indoktrinierung, d. h. das Auftauchen eines ideologischen Lehrfachs.

Geschichte kann man auf unterschiedliche Art und Weise erzählen. Dies kann zweifellos auch ein ideologisiertes Narrativ sein. Aber das Material der Geschichte ist so reichhaltig, dass jeglicher interessierter Hörer, Leser, Schüler oder Student mehr ausmachen wird als man ihm erzählt. Er wird irgendetwas Eigenes finden. In den „Grundlagen der russischen Staatlichkeit“ ist aber das Narrativ scheinbar von Anfang an einem generellen Gedanken untergeordnet – ein völlig nicht neuer beispielsweise für den Diskurs der Herrschenden in den letzten zehn Jahren. Russland hat verschiedene Staatsformen erlebt, es lebte in einer Monarchie, unter einer ideologischen Diktatur einer Partei, in einer liberalen Demokratie und einer souveränen Demokratie. Dabei wird behauptet, dass jegliche Herrschenden (selbst wenn sie sich gelinde gesagt irrten) im Interesse des Landes gehandelt hätten. Und dies sei das, was man wissen, an das man sich erinnern und achten müsse. Und auf die Errungenschaften müsse man in jeglicher Zeitperiode stolz sein. Das Weiße verdrängt also das Schwarze.

In Russland kann es laut Verfassung (selbst nach den vorgenommenen Änderungen) keine staatliche Ideologie geben. Es muss gesagt werden, dass es auch schwierig ist, solch ein ideologisches System zu errichten. In dem multireligiösen Land eignet sich dafür nicht einmal die Orthodoxie. Dabei bleibt der Wunsch eines Teils der herrschenden Elite, wenn nicht die Geister zu disziplinieren, so zumindest die Richtung anzugeben, in der gedacht werden soll, und eine geisteswissenschaftliche Kontrolle zu etablieren, weiterhin bestehen. Jegliches Lehrfach mit einem klar und eindeutig festgeschriebenen Gedanken erscheint da als ein Versuch, diesen Wunsch zu befriedigen.