Das Jahr 2022 hat mit zwei Krisen begonnen, die nichts mit Feiertagen gemein hatten. Russische Truppen konzentrierten sich in der westlichen Richtung, doch handeln mussten sie in der entgegengesetzten, in der östlichen.
Die eine Krise, die im Verlauf mehrerer Monate angeheizt wurde, tatsächlich aber, wenn man ab der Zeit der Münchener Rede von Wladimir Putin zählt, vor anderthalb Jahrzehnten, ist eine von globalem Ausmaß. Aber eine dramatische Auflösung hat sie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung unseres Textes nicht erreicht. Die bis zu einem kritischen Zustand gebrachte Situation des Donbass wird scheinbar doch den Verhandlungen zu Sicherheitsfragen auf unterschiedlichen Tracks – vom ukrainischen (mit geringen Chancen für ein Vorankommen) bis zum europäischen und globalen — einen Impuls geben. Ungeachtet der harten Positionen Moskaus und Washingtons scheint es, dass die Chancen für ein Vorankommen auf diesem zweiten Track vorerst weiter bestehen. Im Grunde genommen hatte dafür auch der Kreml dem Westen ein Ultimatum gestellt.
Die andere Krise ist der erste „schwarze Schwan“ des Jahres 2022. Die von keinem erwartet worden war. (Allerdings hatte es Befürchtungen gegeben. In einer Prognose des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaft für das Jahr 2022 war betont worden, dass „bei den Beobachtern der sich in die Länge gezogene Machttransit in Kasachstan Besorgnis auslöst“.) Der zwei Wochen andauernde Flug des kasachischen „schwarzen Schwans“ wurde von einem Blutvergießen und Opfern begleitet und endete mit spektakulären Verhaftungen. Obgleich offensichtlich die Funken des Protests und des Kampfs der Clans weiterhin glimmen.
Kasachstan ist scheinbar zu einem langfristigen „Kasachstan-Faktor“ geworden. Und daher ist es interessanter, nicht so sehr über Kasachstan als vielmehr über diesen Faktor an sich zu sprechen.
Der Zentrale in Zentralasien
Erstens. Kasachstan ist in der globalen Politik der bedeutsamste (ja mögen sich alle übrigen nicht gekränkt fühlen) Staat Zentralasiens. Zweitens. Das Land nimmt einen ausschließlichen Platz in Eurasien ein. Der eigentliche Begriff Eurasiens wird im 21. Jahrhundert in Vielem durch die Entwicklung der ersten globalen Krise des Jahres 2022 bestimmt werden, durch die Kräfteanordnung und das Kräftegleichgewicht auf dem Kontinent und in der Welt. Und hier ist ein dritter Umstand wichtig: die besonderen Beziehungen Kasachstans mit seinen Nachbarn – mit Russland und China. Viertens. Mit Kasachstan sind aus geoökonomischer, geopolitischer sowie aus ideologischer und zivilisatorischer Sicht alle Integrationsprojekte Russlands verbunden. Fünftens. Bisher ist es sekundär, kann aber zu jedem beliebigen Zeitpunkt in den Vordergrund rücken. Ohne eine Beteiligung Kasachstans verlieren die Turk-Projekte des Präsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, an Wert. Sechstens. Die Entwicklung der Situation in Kasachstan verfolgen aufmerksam sowohl die Länder der zentralasiatischen Region als auch alle postsowjetischen Staaten (einschließlich Russland), wobei sie dessen inneren Kollisionen mit ihren eigenen vergleichen. Ist dies wenig für Sie? Folglich stimmen wir zu: Die Situation in Kasachstan ist ein Faktor der regionalen, der postsowjetischen, der eurasischen und der globalen Politik.
Wird sich die internationale Positionsbestimmung Kasachstans verändern? Es scheint, dass die Krise hier nichts Wesentliches nach sich ziehen wird. Kasachstan wird seinen geachteten Platz in der Welt bewahren. Wie immer auch das Kräfteverhältnis innerhalb der Elite sein mag, aus wen auch immer sie bestehen mag, sie ist an der Bewahrung des ehrenvollen und von keinen inneren Machtkämpfen belasteten Images Kasachstans und dessen Stellung in der internationalen Staatengemeinschaft interessiert. Natürlich lohnt es sich, um Einfluss/Macht/Ressourcen zu kämpfen, aber nur nicht auf Kosten der nationalen Würde. An der Bewahrung des kasachischen Faktors in der Welt sind alle einheimischen Politiker interessiert. Das national-staatliche Ambitioniert-Sein ist einer der Hauptzüge ihres Denkens und ihrer Philosophie. Und darin besteht der wesentliche Unterschied Kasachstans (von Nasarbajew und Tokajew) zu Weißrussland (von Lukaschenko) und der Ukraine, wo die Machtambitionen stark die Sorge um die nationale Würde und über die Achtung in der internationalen Gemeinschaft überwiegen.
In den eurasischen politischen Kräfteverhältnissen steht die Bedeutung des kasachischen Faktors außer Zweifel. Für die eurasische Ideologie und Praxis ist der Kasachstan-Faktor ein entscheidender, wer immer auch in diesem Land an der Macht stehen mag. Für die kasachischen Politiker ist der eurasische Trend, wie und durch wen er auch immer interpretiert werden mag, ein Beleg für den Einfluss ihres Landes, für seine Autorität und überdies ein Beweis für das Recht sowie eine gewisse Indulgenz für das Bestehen und Verfolgen mehrerer Vektoren, für die Souveränität und letzten Endes für die Unabhängigkeit.
Mit Kasachstan sind alle eurasischen Projekte Russlands verbunden, das mehr als an einer Stabilität im Nachbarland interessiert ist. Und wie es scheint, wird Moskau dort beinahe jeglichen Herrschenden unterstützen, denn über Kasachstan kann sich Russland einen besonderen Platz im postsowjetischen Raum, darunter in Zentralasien sichern.
Die neue kasachische Führung wird unbedingt die Interessen Moskaus berücksichtigen. Aber auch der Kreml wird die Ansichten und das Verhalten des erneuerten Machtteams von Kassym-Schomart Tokajew ins Kalkül ziehen müssen, ja und überhaupt auch die Stimmungen in der Gesellschaft, die noch den passionarischen Elan und Zündkraft bewahrt. Und die können unterschiedliche sein. So ist eine Aktivierung der antirussischen Stimmungen nicht auszuschließen, was bereits im Zusammenhang mit den Auftritten von Informationsminister Askar Omarow, die im russischen Establishment einen Sturm von Empörung ausgelöst hatten, der Fall gewesen ist. Wir riskieren, die Vermutung zu äußern, dass der Kreml in der Zukunft derartige Leidenschaften zügeln und vorsichtiger handeln muss, um Provokationen als eine Antwort zu vermeiden. Jegliche Unruhen und selbst Verärgerungen, auch wenn sie keine großen sein werden, werden weder von der einen noch der anderen Seite gebraucht.
Es sei angemerkt, dass man sich in Moskau daran gewöhnt hatte, es ausschließlich mit dem herrschenden Regime zu tun zu haben, und es nicht gelernt hat, „die Seele der Gesellschaft“ seiner nächsten Nachbarn zu spüren. Hat sich nicht etwa deshalb die „russische Welt“ als ein wenig perspektivreiches, wenn auch kostspieliges Projekt im gesamten postsowjetischen gesellschaftlichen Raum, der gerade seine Souveränität erlangte und sie schätzt, erwiesen?! Und dennoch, ungeachtet der Ineffizienz der Politik der „sanfte Stärke“ bleibt in Kasachstan, ja und auch in den anderen Ländern Zentralasiens die Haltung gegenüber Russland als eine „reale Kraft“, was die Januar-Krise bestätigte, eine positive im Vergleich zu den Bewertungen der beiden anderen Weltmächte — von China und den USA. So standen laut US-amerikanischen Meinungsumfragen (von 2017 und 2019) 79 Prozent der Befragten positiv Russland gegenüber, 58 Prozent – China und 51 Prozent den Vereinigten Staaten. Möglicherweise mag man Russland nicht, doch man achtet es als einen zuverlässigen Partner, vor allem im Sicherheitsbereich. Interessant ist, wie in diesem Jahr die Ergebnisse derartiger Befragungen ausfallen werden.
Was war das gewesen?
Wie können die kasachischen Proteste die Situation in den Ländern der zentralasiatischen Region, im postsowjetischen Raum beeinflussen? Die einheimischen Herrschenden müssen vor allem ehrlich die Ursachen des Geschehenen begreifen (und das propagandistische Hirngespenst von den „äußeren/ausländischen Intrigen“ aufgeben) und entsprechend den Kräften den Versuch unternehmen, schnell die ökonomische Lage ihrer Bürger verbessern. Nach den Januar-Unruhen ist endgültig klar geworden, dass die grundlegenden Ursachen für die Instabilität und den sozialen Aufruhr innere Probleme und bei weitem keine äußere Einmischung – sei es durch die Taliban (die in der Russischen Föderation offiziell verboten sind) oder die Amerikaner – sind.
Möglicherweise hat es für sie Sinn, einige spektakuläre Antikorruptionsprozesse durchzuführen, um zu demonstrieren, dass die Offizielle für soziale Gerechtigkeit kämpfen. Die einheimischen Herrschenden müssen aufmerksamer den Zustand der Geheimdienste im Auge behalten, in deren Hinsicht in Kasachstan Fragen bleiben. Ihre Unzuverlässigkeit in Kasachstan, und genauer gesagt: Verwirrung unter den Bedingungen der Doppelherrschaft hätte beinahe zu einem Zusammenbruch der Macht und Chaos im Land geführt und machte die Bitte um Unterstützung durch die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit zu einer alternativlosen. Aber nicht weniger gefährlich ist auch ein Agieren einer gewissen Leibwache, eine Situation, in der die Sicherheits-, Rechtsschutz- und bewaffneten Institutionen im buchstäblichen Sinne durch eine Blutsverwandtschaft an den Herrscher gebunden sind und die – Gott bewahre — mit einem Bürgerkrieg schwanger geht.
Schließlich muss irgendwo eine gewisse Art von Inventarisierung des radikalen Islamismus vorgenommen werden, da, wenn die regierungsfeindlichen Aktionen beginnen werden, sich in die Länge zu ziehen, die große Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Volksprotest eine religiöse Form — wenn auch nur teilweise — annehmen kann.
Die Erfahrungen Kasachstans sind auch aus der Sicht dessen wichtig, wie sich die Sieger verhalten werden, vor allem Präsident Tokajew. Wird er Gnade an den Tag legen oder im Gegenteil alle hart bestrafen, die nach seiner Meinung beteiligt gewesen waren – angefangenen bei den Marodeuren bis hin zu seinen politischen Opponenten inkl. der nächsten Umgebung des früheren Staatsoberhauptes Nursultan Nasarbajew. Wird es Tokajew gelingen, Extremfälle zu umgehen?
Auf paradoxe Art und Weise hat Tokajew entsprechend den Ergebnissen der Krise freie Hand bekommen. Erstens kann er, „indem er den Willen des Volkes umsetzt“, das System der politischen und ökonomischen Verwaltung des Landes verjüngen und erneuern. Es geht dabei natürlich nicht um eine grundlegende Veränderung des Regimes, sondern um seine Modernisierung, um eine Verteilung und Steuerung der Ströme der Haushaltsgelder, darum, was in Russland bereits viele Jahre als eine Föderalisierung des Haushalts diskutiert wird, sowie um eine Transparenz und Haftung des Verwaltungssystems. Zweitens hat Tokajew ein „Mandat“ des Volkes erhalten, den „eindeutigen Auftrag“, die Brisanz der sozialen Ungleichheit zu verringern, das heißt: das Recht zu einer Umverteilung der Einnahmen aus den Dividenden und Zinsen. Es sei angemerkt, dass es dabei nichts spezifisch Kasachisches gibt. Die ganze Welt, die wohlbehaltensten Demokratien nehmen auf der Welle des Coronavirus und der Zunahme der sozialen Ungleichheit fieberhaft eine Revision der Bedingungen des „neuen Gesellschaftsvertrages“ vor. Für Tokajew kann sich mit Blick auf die Januar-Unruhen erweisen, dass dies einfacher zu tun ist.
Besondere Bedeutung hat der Einsatz der Kräfte der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS). Wobei gerade dieser Organisation und nicht einfach russischer Einheiten. Es sei daran erinnert, dass es Russland vor etwas mehr als einem Jahr durchaus rational vorgezogen hatte, für die Regulierung des Bergkarabach-Konfliktes nicht im Rahmen der OVKS, sondern auf der Grundlage des bilateralen Vertrages mit Armenien zu handeln.
Im Januar 2022 hat die friedensstiftende Mission in Kasachstan, die sorgfältig durch die Bestimmungen des Statuts der OVKS und sogar durch Artikel 51 der UN-Charta (wo von einer Situation der Instabilität und einer Bedrohung der Staatlichkeit die Rede ist) untermauert worden war, den Status der OVKS als ein operatives Institut und einen Mechanismus für die Sicherheit in Eurasien gefestigt und deren internationale Legitimierung gefördert. Und da die Handlungen „taktvolle“ waren, zu keiner Zuspitzung der Situation führten und schnell zu Ende gegangen sind, eröffnet dies Perspektiven für einen Einsatz der OVKS auch künftig in brisanten und unvorhersehbaren Situationen.
Damit hat Russland seine Beteiligung an den Angelegenheiten der nächsten Verbündeten legitimiert – natürlich entsprechend ihrer Bitte und mit einem eingeschränkten Mandat. Im Fall von Kasachstan sind Parallelen mit der Situation rund um den Donbass und umso mehr mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan 1979 und in Prag 1968 nicht korrekt. Obgleich es eingestandenermaßen Befürchtungen komparativer Art gegeben hatte.
In welchen Ländern der Region kann der kasachische Faktor als ein Trigger für ein künftiges Aufflammen von Unzufriedenheit dienen? Diesbezügliche Vermutungen sehen provokant aus, dennoch aber… Da kommt einem Kyrgystan mit seinen drei Revolutionen und der endlosen politischen Instabilität in den Sinn. Tadschikistan, wo nach wie vor die islamische Opposition stark ist. Und in der Nachbarschaft das von den Taliban regierte Afghanistan. Last and least Turkmenistan, in dem ungeachtet des totalitären Regimes die Unzufriedenheit aufgrund der Armut zunimmt und wo die Widersprüche zwischen den Stämmen und Regionen andauern. Wobei, wenn 20.000 „Banditen“ auf einmal ins Stadtzentrum von Aschgabat kommen, sie keiner aufhalten kann. Und das neutrale Turkmenistan ist kein Mitglied der OVKS.
Die Autoren des vorliegenden Beitrages beharren jedoch nicht auf die Unvermeidlichkeit einer derartigen Entwicklung.
Derweil in Genf…
Selbst den unverbesserlichsten Anhängern einer Verschwörungstheorie ist nicht in den Sinn gekommen, die Vermutung anzustellen, dass Russland die Unruhen in Kasachstan gerade zum angespanntesten Zeitpunkt der Krise zwischen Russland und dem Westen am Vorabend der Januar-Treffen in Genf, Brüssel und Wien provoziert hätte. Solch ein Schritt wäre selbst für den Kreml, der zu dieser Zeit die Atmosphäre angeheizt hatte, ein zu riskanter gewesen.
Der kasachische Januar hatte sich jedoch mehr als ein passender für Russland herausgestellt. Nach dem Einrücken des Kontingents der OVKS bestätigte das Weiße Haus, nachdem es moderate Besorgnis bekundet hatte, das Treffen der Delegationen der USA und Russlands am 10. Januar in Genf. Dieser Zeitpunkt wurde zu einem Moment einer Wende. Die Spannungen ließen nicht nach, doch die Gefahr eines militärischen Konfliktes – und nicht nur in Zentralasien – verringerte sich.
Washingtons Reaktion auf die Ereignisse in Kasachstan war eine zeichensetzende. Sie bedeutete, dass die USA erstens bereit sind, die Augen vor einigen Momenten bei der Entscheidung über die Entsendung eines Kontingents der OVKS dorthin zu schließen. Aus Washington erfolgten auch nicht die gewohnten Invektiven von einer Verletzung der Menschenrechte. Zweitens erwiesen sich die USA de facto als bereit, Russland die Beilegung des Konflikts zu überlassen. Und schließlich drittens, und dies ist das Wichtigste. Die Haltung Washingtons in Bezug auf die Kasachstan-Krise belegt, dass seine Priorität der Dialog ist. Und möglicherweise auch ein Erreichen der von Moskau verlangten Vereinbarungen zur europäischen und globalen Sicherheit in der einen oder anderen Form. Wahrscheinlich im Format von Verhandlungen über eine Rüstungskontrolle, in deren Hinsicht die USA und Russland riesige Erfahrungen gesammelt haben. Und dies alles, um eine weitere Annäherung Russlands mit China zu verhindern, dessen Aufhalten das strategische Hauptziel der USA ist.
Es sei betont, dass auch die Reaktion von Peking auf die Kasachstan-Ereignisse eine demonstrativ zurückhaltende gewesen war. Die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen von Kasachstan mit China werden sich natürlich weiterhin entwickeln. China hat große Investitionen in dessen Industrie und Infrastruktur vorgenommen. Zur gleichen Zeit aber werde nach Meinung einiger amerikanischer Experten die Krise in Kasachstan die Realisierung des chinesischen Projekts „Ein Gürtel und eine Straße“ („Neue Seidenstraße“), in dem Kasachstan eine spürbare Rolle spielt, beeinflussen.
Der kasachische „schwarze Schwan“ hat bestätigt, dass sich die Welt ungeachtet der Pandemie und der globalen Erwärmung nicht so schnell verändert. Und ihre Schlüsselprobleme werden in der überschaubaren Perspektive in den bisherigen Formaten gelöst werden.
Die Frage besteht darin: Ist dies gut für Russland?
*) Anmerkung der Redaktion:
Der Begriff „schwarzer Schwan“ steht für Ereignisse mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit, die den Menschen zwingen, seine Sicht der Dinge zu ändern.