Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des Präsidenten der Russischen Föderation, hat erklärt, dass die Arbeit an der Jahresbotschaft an die Föderale Versammlung „nicht eingestellt wurde“, und hinsichtlich des Termins werde man alle „rechtzeitig informieren“. Zuvor hatten Nachrichtenagenturen unter Berufung auf ihre Quellen mitgeteilt, dass die Jahresbotschaft zu Beginn der dritten Februar-Dekade verkündet werde. Erwartet wurde (und wird nach wie vor erwartet), dass man den Präsidentenauftritt dem ersten Jahrestag des Beginns der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine widmen könne. Es ist offensichtlich, dass die Rede von Wladimir Putin vor allem die militärische Sonderoperation betreffen wird.
Die Frage besteht in den Details. Putin selbst hatte noch vor dem Jahreswechsel erläutert, warum sich die Jahresbotschaft verzögere. „Die Situation entwickelt sich sehr dynamisch“, hatte er Journalisten gesagt, „daher war es schwierig, direkt zu einem konkreten Zeitpunkt Ergebnisse und konkrete Pläne für die nächste Zeit zu fixieren“. Über die „entscheidenden Sachen“ hätte sich der Präsident nach eigenen Worten bereits mehrfach in unterschiedlichen Formaten geäußert. Folglich wollten sowohl er als auch die Administration sich nicht einfach wiederholen, „noch einmal alles in eine formale Jahresbotschaft stopfen“. Gebraucht werde Zeit für eine zusätzliche Analyse, erklärte Putin, wobei er hinzufügte, dass er an einer erfolgreichen Realisierung der Zukunftspläne keine Zweifel hege.
Die Verlegung der Jahresbotschaft stellt man in eine Reihe mit der Verlegung der traditionellen großen Pressekonferenz Putins und seiner Call-In-Show (der öffentlichen „Bürgersprechstunde“ – Anmerkung der Redaktion) mit (ausgewählten) Bürgern des Landes. Die Ausübung dieser politischen Rituale ist jedoch im Unterschied zur Jahresbotschaft an die Föderale Versammlung nicht in der Verfassung festgeschrieben worden. Über die Jahresbotschaft heißt es da: Ihr Jahresregime mag eher eine Vollmacht sein, und keine direkte Pflicht des Präsidenten.
Die Jahresbotschaft ist ein strategischer Auftritt. Wenn sie fertig ist, so bedeutet dies, dass die Herrschenden die Lage der Dinge eingeschätzt haben, sie in der Lage sind, eine Entwicklung der Schlüsselereignisse in der überschaubaren Perspektive anzunehmen, sie sehen, wie der Staat und die Gesellschaft diese Entwicklung beeinflussen können, und sie geben Kriterien für die Bewertung ihrer Arbeit vor.
Daraus, dass es bisher keine Jahresbotschaft gibt (und es unbekannt ist, wann es sie geben wird), kann leicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass all dies – die Analyse, die Prognose, die Taktik für die Handlungen und die Bewertungskriterien – die Herrschenden jetzt nicht formulieren und verkünden können. Das hohe Rating und das Ausbleiben einer fordernden politischen Konjunktur erlauben ihnen, mit der Zeit zu manövrieren.
In der Jahresbotschaft nimmt die Wirtschaft stets sehr viel Raum ein. Die Offiziellen, und nicht nur der Präsident, versichern den Bürgern, dass es dem Land gelungen sei, die Zone der Turbulenzen zu überwinden, und man Pläne schmieden und Projekte realisieren könne. In solch einem Fall ist nicht ganz klar, warum der vorrangig wirtschaftliche Auftritt – mit verständlichen Anmerkungen über die schwierige internationale Situation und Russlands Lage in einem Ring von Feinden – nicht verkündet wird. Schließlich können sich jene aufgrund des Ausbleibens einer strategischen Botschaft Sorgen machen, die die Entscheidungen umsetzen müssen. Die kommunalen Offiziellen, die Minister, unterschiedliche Staatsbeamte. Oder jene, die die Wirtschaft im Grunde genommen darstellen. Und dies sind Geschäftsleute, Inhaber von Unternehmen.
Die zu dynamische Entwicklung, von der Putin gesprochen hatte, betrifft augenscheinlich eben jene internationale Konjunktur und die militärische Sonderoperation. Wie sehr man auch gern erklären würde, dass alles laut Plan erfolge (zu einem Sieg, zu einer Erfüllung der Aufgaben), verändert sich der eigentliche Weg zum Ziel. Er hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Und die sind nichtvoraussagbar. Es scheint offensichtlich zu sein, dass die Perspektiven und der Verlauf der fast einjährigen militärischen Sonderoperation in größerem Maße den Horizont der Erwartungen als die Versicherungen hinsichtlich einer Stabilität der Wirtschaft bestimmen. In den letzten Monaten hören wir oft die Wortverbindung „die Situation am Boden“. Es scheint, dass es recht schwierig ist, gerade die Situation am Boden zu fixieren und zu beschreiben. Aber dies kann man gerade vom Staatsoberhaupt erwarten.
Im Gespräch mit Journalisten im vergangenen Dezember erinnerte Putin daran, dass es im Jahr 2017 keine Jahresbotschaft gegeben hätte. Damals hatte man sie dichter an die Präsidentschaftswahlen gelegt. Und gerade damals hatte Putin Videos demonstriert, die die Leistungen der russischen Rüstungsindustrie priesen. Offensichtlich sind für ihn solche Ansprachen keine institutionelle Routine, sondern ein politischer Akt, für den ein günstiger informationsseitiger Hintergrund gebraucht wird. Wahrscheinlich warten die Herrschenden einfach ab, bis sich der Background herausgebildet hat.