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Wozu braucht Russland Julian Assange?


Margarita Simonjan, die Chefredakteurin des staatlichen russischen Auslandsfernsehen RT, hat vorgeschlagen, den wegen Spionage verurteilten Paul Whelan, den zu 25 Jahren strenger Lagerhaft wegen angeblichem Landesverrat und einer Diskreditierung der russischen Streitkräfte verurteilten Wladimir Kara-Mursa (ist in der Russischen Föderation als sogenannter ausländischer Agent abgestempelt worden) und den unter Spionageverdacht stehenden Wall-Street-Journal-Korrespondenten Evan Gershkovich gegen den Wiki-Leaks-Gründer Julian Assange auszutauschen. Es macht Sinn, daran zu erinnern, dass sich der Australier Assange bereits vier Jahre im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh befindet und auf seine Abschiebung in die USA wartet, wo ihm eine lebenslängliche Haftstrafe droht. Viele Journalisten und Parlamentarier westlicher Länder – inklusive der Vereinigten Staaten – treten öffentlich gegen eine Abschiebung auf.

Nach Aussagen der 43jährigen Simonjan werde man solch einen Mann wie Assange nicht anders als gegen drei hergeben. Hinter dem Vorschlag der RT-Chefredakteurin sind gleich mehrere Grundgedanken auszumachen, im aktuellen politischen Kontext durchaus natürliche.

Vor allem wird der Konflikt Russlands mit dem Westen zu einem totalen. Für die dem Kreml nahestehenden Spitzenvertreter der öffentlichen Meinung habe jeglicher Kritiker der russischen Politik „nicht alle Tassen im Schrank“. Er wird als ein Agent des Westens oder konkret der USA aufgefasst, als „ihr Vertreter“, den sie möglicherweise austauschen wollen. Entsprechend dieser Logik kann beinahe jeglicher beliebiger Oppositionelle, Menschenrechtler oder Blogger, der beispielsweise wegen Verunglimpfung der Streitkräfte der Russischen Föderation hinter Gitter geraten ist, als Figur für einen Austausch angesehen werden. Ob man in Amerika oder Europa mit solch einer Logik einverstanden ist, ist eine große Frage.

In den USA betont man, dass sich Evan Gershkovich in Russland mit einer journalistischen Tätigkeit befasst habe. Die russische Anklage ist der Auffassung, dass er Spionage betrieben habe. Der Kreml erklärt, dass keiner der üblichen Arbeit ausländischer Journalisten in der Russischen Föderation Steine in den Weg legen werde. Es scheint, dass es für die USA und den anderen westlichen Ländern schwierig ist, dem Glauben zu schenken, wobei man den schwer zu überwindenden Konflikt von Interpretationen und der blitzschnellen Reaktion (die Festnahme und ersten Gerichtsverhandlungen) ins Kalkül zieht. Redaktionen haben einfach Angst, Journalisten nach Russland zu entsenden, in ihren Publikationen wird es weniger Konkretes vom Ort der jeweiligen Ereignisse geben. Dieser Logik können auch russische Journalisten unterworfen werden: Es ist gefährlich, in den Westen zu fahren. Man werde einen Anlass für eine Festnahme finden. Es wird eine Mauer auch ohne direkte Reiseverbote errichtet.

Im Grunde genommen ergeben sich Kategorien von Verurteilten: jene, die einfach eine Straftat begangen haben, und jene, die man austauschen kann. Die Herrschenden und die ihr nahen Publizisten und TV-Moderatoren haben stets gesagt und werden es auch jetzt sagen, dass es im Land keine geben würde, die man üblicherweise als politische Häftlinge bezeichnet. Jeder sei für eine Rechtsverletzung entsprechend dem Strafgesetzbuch der Russischen Föderation verurteilt worden. Es ergibt sich jedoch, dass sich für eine der Kategorien von Verurteilten der Tatbestand der Straftat als ein unwichtiger erweisen kann. Ob sie das Gericht für Extremisten, Spione oder gefährliche prowestliche Propagandisten hielt, dies ist vom Wesen unwichtig, wenn man solche Inhaftierten an andere Länder im Gegenzug für deren Inhaftierte übergeben kann.

Die Figur des fast 52jährigen Assanges taucht im Diskurs der Publizisten, die den Herrschenden nahe sind, nicht zufällig auf. Es schien, dass er keinen direkten Bezug zu Russland hat. Dies ist kein Bürger der Russischen Föderation, den man aus einem westlichen Gefängnis freibekommen muss. Der Kontext ist aber weiter. Russland positioniert sich als ein Kämpfer gegen das Diktat des kollektiven Westens, gegen die sogenannte „goldene Milliarde“. Somit will es Sympathien von Staaten, Kritikern der westlichen Eliten, der ausländischen Opposition, die gegen das Establishment auftritt, sowie marginalisierter Konservativer oder hoffnungsloser Linker erheischen.

Bei solch einem Vorgehen werden bereits nicht nur Figuren der Innenpolitik oder russische Bürger, sondern die ganze Welt in die Logik der Konfrontation „sie oder wir“ einbezogen. Indem Russland auf irgendwen in der Art von Assange verweist, verlagert es seine Interessen und seine Wahrheit in den Kontext von Konflikten im eigentlichen Westen, macht sie zu seinen. Der Austausch von Gefangenen wird zu einer Methode, nicht bloß seine Bürger aus der Patsche zu helfen, sondern auch eine politische Message zu formulieren. Assange würde solch einer Message mehr Lautstärke verleihen.