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Zwei Drittel der jungen Russen halten das Leben im Land für ungerecht


Die soziale und berufliche Zusammensetzung der russischen Jugend (im Alter von 18 bis 35 Jahre) hat Veränderungen erlebt. Halbiert hat sich der Anteil der Arbeiter, aber um das 2,5fache hat der Anteil der Beschäftigten im Handel und Dienstleistungssektor zugenommen. Mehr als die Hälfte der heutigen Jugend stellen die sogenannte „neue Arbeiterklasse“ dar, aber auch das traditionelle Proletariat. Die Einkommen der heutigen Jugendlichen unterscheiden sich praktisch nicht von der älteren Generation. Dabei sind zwei Drittel der jungen Menschen der Auffassung, dass das Leben in Russland ein ungerechtes sei. Und so denken gar die wohlhabenden Gruppen der Jugendlichen.

Vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2021 hat sich der Anteil der Arbeiter unter der Jugend von 43 bis auf 22 Prozent verringert. Zur gleichen Zeit hat der Anteil der Beschäftigten im Handel und Dienstleistungsbereich drastisch zugenommen (von 13 bis auf 33 Prozent), wo formal keine Forderungen nach Vorhandensein einer Hochschulausbildung für die Positionen bestehen, für die im Grunde genommen auch keine Hochschulausbildung erforderlich ist.

Die Beschäftigten des Handels und Dienstleistungssektors kann man als eine „neue Arbeiterklasse“ charakterisieren. Hinsichtlich des sozialen Geschütztseins, der Stabilität der Lage, des Grades der Einhaltung der sozialen Garantien usw. befinden sie sich den Arbeitern näher als den Spezialisten mit einer Hochschulausbildung, betont Swetlana Marejewa, leitende führende wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Bemerkenswert ist, dass der Beschäftigungsgrad der jungen Menschen im Handel und Dienstleistungsbereich auf den einfachen Positionen vor dem Hintergrund einer generellen Verbreitung einer Hochschulausbildung unter der städtischen Jugend und insgesamt in dieser Altersgruppe zunimmt. Während im Jahr 2000 26 Prozent aus der Gruppe der 18- bis 35jährigen eine Hochschulausbildung besaßen (oder abgeschlossen hatten), hat dieser Wert heute einen Anstieg bis auf beinahe 38 Prozent vorzuweisen. Und solch eine Zunahme der jungen Bürger mit einer Hochschulausbildung hat sich natürlich durch eine Reduzierung des Anteils der weniger ausgebildeten jungen Menschen ergeben. Der Anteil der Besitzer einer abgeschlossenen Berufsausbildung hat sich innerhalb von zwanzig Jahren von 45 bis auf 40 Prozent verringert. Und der Anteil der Jugendlichen nur mit einer Mittelschulausbildung hat sich von 27 bis auf 20 Prozent verringert.

Freilich, mit dem Erhalt einer Hochschulausbildung durch die jungen Menschen in der Russischen Föderation bleiben wesentliche Probleme. Unter den jungen Menschen vom Lande oder den Kindern aus Familien ohne eine Hochschulausbildung ist der Anteil der Studenten oder Absolventen wesentlich geringer als in den anderen sozialen Gruppen. Eine Hochschulausbildung wird zu einer sozialen Norm für jenen Teil der Jugendlichen, deren monatlichen Pro-Kopf-Einkommen in den Haushalten zwei lokale durchschnittliche Einkommen überschreiten. Unter denen, die aus solchen Familien stammen, haben mehr als 60 Prozent der jungen Menschen eine Hochschulausbildung. In den Haushalten mit Einnahmen unterhalb von zwei durchschnittlichen lokalen Einkünften ist eine abgeschlossene Berufsausbildung (Facharbeiterausbildung) für die jungen Menschen die am meisten verbreitete. Somit wirken die materielle Lage der Familie und der Wohnort als wichtige Faktoren für den Erhalt einer Hochschulausbildung durch die jungen Menschen.

Es ist erstaunlich, die Differenzierung der jungen Menschen hinsichtlich des Umfangs des individuellen Einkommens unterscheidet sich wenig von solch einer Differenzierung in den höheren Altersgruppen. Entsprechend dem Erwachsenwerden ein und derselben Generation junger Menschen ändert sich die Zugehörigkeit zu den einen oder anderen Einkommensgruppen nur unerheblich. So gehörten im Jahr 2010 33,2 Prozent der jungen Menschen im Alter von 18 bis 30 Jahren zum wohlhabenden Teil der Bevölkerung (mit Einkommen, die mehr als das 1,25fache des lokalen Durchschnitts ausmachten). Unter eben dieser, aber bereits erheblich herangereiften Gruppe machte der Anteil der Wohlhabenden bzw. der Gutgestellten im Jahr 2021 31,5 Prozent aus. „Somit ändert sich entsprechend dem Erwachsenwerden der jungen Menschen nicht das generelle Modell ihres Status in der Einkommenshierarchie. Und das Verhältnis der Gutsituierten und Minderbemittelten bleibt hinsichtlich der Einkommen der Gruppen ein recht stabiles“, resümiert Marejewa.

Eine bezeichnende Tatsache für die russische Jugend ist ihre Unzufriedenheit über die Gerechtigkeit der russischen Realitäten. „Praktisch zwei Drittel der jungen Bürger Russlands im Alter von 18 bis 35 Jahren hält die Gestaltung des Lebens in Russland für eine ungerechte (65,9 Prozent, wobei 18,4 Prozent der Annahme sind, dass sie unbedingt ungerecht sei). Dieser Anteil ist nur etwas geringer als unter den erwachsenen Bürgern Russlands (69,8 Prozent). Die Enttäuschung über die Gestaltung der russischen Gesellschaft nimmt in dieser Hinsicht entsprechend dem Erwachsenwerden zu“, meinen die Soziologen. Es ist paradox, doch in den Standardumfragen über die Lage der Dinge antworten auf die Frage „Bewegt sich das Land in einer richtigen oder einer falschen Richtung?“ antworten mehr als 50 Prozent der jungen Menschen und der älteren Generation „in einer richtigen“. Wobei laut letzten Meinungserhebungen der Anteil jener, die der Auffassung sind, dass sich das Land in einer richtigen Richtung bewege, die 68-Prozent-Marke überschritten hat. Wie man solche Antworten mit den vorherrschenden Vorstellungen von einer Ungerechtigkeit des Lebens in der Russischen Föderation in Einklang bringen kann, erklären die Soziologen vorerst nicht.

Für die jungen russischen Bürger ist (im Vergleich zur mittleren und älteren Generation) eine Gleichheit des Zugangs zu guten Arbeitsplätzen weitaus wichtiger. Dabei werden dagegen eine Gleichheit des Lebensniveaus und das Nichtvorhandensein von Armen und Reichen in der Gesellschaft von den Vertretern der Jugend seltener als durch Russlands Bürger im Alter von 36 bis 65 Jahren betont (32,8 bzw. 37,1 Prozent). „Somit steht die soziale Gerechtigkeit für die jungen Menschen in erster Linie mit dem Prinzip der Gleichheit der Möglichkeiten und dem institutionellen Aufbau der Gesellschaft, der eine Realisierung dieses Prinzips in der Praxis gewährleistet, in einem Zusammenhang“, erklärt Marejewa.

„In der Russischen Föderation gibt es praktisch keine Diskriminierung der jungenden Menschen hinsichtlich des Einkommensniveaus. Ein und derselbe Arbeitsplatz sieht eine ungefähr gleiche Arbeitsvergütung vor, unabhängig davon, welchen Alters die Person ist, die diesen einnimmt. Eine andere Sache ist, dass die jungen Menschen, die in der Regel im Durchschnitt weniger Erfahrungen und eine geringere Qualifizierung im Vergleich zur älteren Generation besitzen, Arbeitsplätze mit einem geringeren Einkommen erhalten. Dies ist aber bei weitem keine Diskriminierung aufgrund des Alters, sondern eine normale Aufteilung entsprechend den Arbeitsjahren, der Qualifikation und der beruflichen Qualitäten. Und ein junger Mensch mit einer guten adäquaten Ausbildung und Soft Skills haben oft gar einen Vorteil für das Besetzen attraktiver Stellen im Vergleich zu einer erwachsenen bzw. reifen Person. Besonders spürbar ist dies in den neuen modernen Sphären – in den Bereichen IT, Telekommunikation, Medien u. a.“, sagt Mark Goichman, Chefanalytiker des Investitionsunternehmens „TeleTrade“.

„Für die jungen Menschen hängt das Begreifen von Gerechtigkeit vor allem mit den Bewertungen für die Perspektiven ihrer Zukunft zusammen. Die jungen Menschen begreifen die Gerechtigkeit als Gleichheit der Möglichkeiten für die Menschen – unabhängig vom Geschlecht, der Zugehörigkeit zu verschiedenen Gesellschaftsschichten, dem sozialen und materiellen Status und dem Wohnort. Wichtig ist gleichfalls eine Gleichheit der Bürger hinsichtlich der Realisierung und der Verteidigung ihrer Rechte, hinsichtlich des Zugangs zu einer Ausbildung, zu Arbeitsplätzen, zur sozialen und medizinischen Betreuung“, meint der Experte. Da die Aufspaltung der Gesellschaft hinsichtlich dieser Kriterien in Russland sehr groß sei, werde dies auch als eine Ungerechtigkeit wahrgenommen.

Die Verringerung des Anteils der Arbeiter bringen die Experten mit einer relativen Reduzierung des Anteils der (materiellen) Produktion in der Wirtschaft, mit dem Schrumpfen der traditionellen verarbeitenden Industrie oder dem Bauwesen in einen Zusammenhang. „Die Beschäftigten des Handels und Dienstleistungssektors kann man nur sehr bedingt als „Arbeiterklasse“ bezeichnen. Arbeiter in der klassischen Vorstellung sind qualifizierte Spezialisten (Facharbeiter) in einem bestimmten Bereich der manuellen Arbeit.