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Zwischen dem Staat, der Ideologie und dem Menschen hatte Gorbatschow kompromisslos den Menschen gewählt


Michail Gorbatschow bleibt eine historische Persönlichkeit – nicht nur aufgrund dessen, dass unter ihm die Sowjetunion verschwand, sondern weil er vor allem in der Praxis die Prinzipien des Humanismus realisierte, wobei er sie hinsichtlich der Leitung der spätsowjetischen Gesellschaft angewandt hatte. Das Wesen des Gorbatschow-Humanismus lief auf einen Verzicht von Repressalien und eine Diskriminierung Andersdenkender hinaus, was sich in den Weiten unserer Heimat nach wie vor als ein überaus seltener Wesenszug der staatlichen Führung (des Staatsoberhauptes) erweist.

In den 37 Jahren, die seit dem Beginn der Perestroika vergangen sind, ist hinsichtlich dieses Phänomens viel geschrieben worden, über Gorbatschow – noch mehr.

Sicherlich ist alles gesagt worden.

Aufgrund des Zusammenbruchs der UdSSR hatte Michail Sergejewitsch alle Todsünden angehängt. Und man setzt fort, dies zu tun. Jedoch hatte es keine wahre allseitige Analyse der Perestroika als ein konkretes Modernisierungsprojekts durch das Prisma der institutionellen Transformation gegeben. Wahrscheinlich liegt die Hauptursache hier in den angewandten politischen Zielen und Aufgaben – zuerst des Jelzin- und danach auch des Putin-Regimes, die beide in eigenen Interessen eine einseitige Kritik der Perestroika ausgenutzt hatten, so als hätten sie die Herausforderungen, die vor der KPdSU und der UdSSR gestanden hatten, besser als Gorbatschow und die damalige Generation der sowjetischen Spitzenvertreter bewältigt.

Heute ist bereits völlig offensichtlich, dass Gorbatschow vorgehabt hatte, das sozialistische Haus ein wenig instand zu setzen. Er glaubte an die prinzipielle Lebensfähigkeit des Systems. Er hatte Antworten auf die Herausforderungen von 1985 in den alten Arbeiten Lenins gesucht. Gorbatschow hatte mehrfach gesagt, dass er der sozialistischen Wahl seines Großvaters treu ergeben sei. Wahrscheinlich ist der Sozialismus seines Großvaters und Kolchosbauern nichts Anderes als Stalinismus, die in den 1930er Jahren einzige gegebene und für das Begreifen der Bauern zugänglichen Form für die Organisierung einer Kollektivwirtschaft. Die Kollektivierung im Stil von Stalin hatte nicht nur mit dem sozialistischen Ideal von Marx nichts gemein, sondern auch selbst mit den Sozialismus-Vorstellungen von Lenin an sich.

Gorbatschow hatte sich aufrichtig, situationsbedingt geirrt. Doch im Zuge des Aufdeckens von Tatsachen und der Wahrheit über den realen Sozialismus konnte er auf sie nur damit reagieren, dass er sich ihrer Verbreitung nicht widersetzte. Gorbatschow hatte kein eigenes, an die neuen Erkenntnisse adaptiertes Aktionsprogramm zur Transformierung des Landes.

Wie dem da auch immer sein mag: Das Wichtigste in der Persönlichkeit von Michail Sergejewitsch ist, dass er sich nicht als ein Mörder erwiesen hat, nicht als ein Machtsüchtiger, der sich an den Leiden und dem Blut anderer berauscht.

Der angesehene Bolschewik Fjodor Raskolnikow hatte in einem offenen Brief an Stalin im August 1939 geschrieben: „Keiner fühlt sich in der Sowjetunion in Sicherheit. Keiner weiß, wenn er sich schlafen legt, ob es ihm gelingen wird, einer nächtlichen Verhaftung zu entgehen. Es gibt für niemanden ein Pardon. Ein Rechter und ein Schuldiger, ein Held des Oktobers und ein Feind der Revolution, ein alter Bolschewik und ein Parteiloser, ein Kolchosbauer und ein bevollmächtigter Vertreter, ein Volkskommissar und ein Arbeiter, ein Intellektueller und ein Marschall der Sowjetunion. Alle werden in gleichem Maße von den Schlägen Ihrer Geißel erfasst, alle drehen sich in dem teuflischen blutigen Karussell“. In diesen Worten liegt die emotional genaueste Charakteristik des Stalinismus als eine Tyrannei.

Gorbatschow hatte zweifellos die Verbrechen Stalins verurteilt, denn er schätzte Chrustschow. Er hatte aber wohl kaum begriffen, dass die tragenden Konstruktionen der UdSSR aus den konzeptuell ganzheitlichen Baumaterialien unter dem Namen „Angst“, „Gewalt“ und „Abgeschlossenheit“ geschaffen worden waren. Gerade deshalb war der Gedanke von der Perestroika als eine Vervollkommnung bald durch die Glasnost (Transparenz) als Form für eine allseitige Erörterung von Mängeln, der Kritik und Enthebung aller Nomenklatura-Kader der Ämter ergänzt worden. Unter Stalin erfolgte die Säuberung der Reihen durch Methoden von Repressalien. Gorbatschow aber unterbreitete human das Recht auf Wahrheit. Die grausamsten Stalin-Repressalien hatten die Sowjetunion in unterschiedlichen Lebensbereichen geschwächt, aus denen Genies und einfache Profis entfernt wurden. Sie hatten aber die eigentliche Existenz des Staates nicht untergraben.

Die Gorbatschow-Glasnost verwandelte sich aber in die Injektion eines Vakzins der Wahrheit, die zu einer tödlichen Dosis für die sowjetische Staatlichkeit an sich wurde. Der Staat, überdies auch noch ein föderativer vom Aufbau her, flog buchstäblich wie das Häuschen von Nif-Nif (aus dem englischen Märchen „Die drei kleinen Schweinchen“ – Anmerkung der Redaktion) durch den Windzug der Wahrheit über den menschlichen Wert unserer Union auseinander.

Somit endete die grundlegende Reparatur des sozialistischen Systems, die der überzeugte Sozialist Gorbatschow angeschoben hatte, mit dessen Demontage, dem Zusammenbruch der russischen Staatlichkeit. Dies ist die frappierendste Wirkung des Einwirkens der Perestroika auf den Sozialismus des Stalin-Typs. Und der offenkundigste Beweis für die Inkompatibilität des errichteten sowjetischen Staates mit den Prinzipien der Normalität, mit dem Wunsch der Bürger, reicher, freier, ohne Repressalien und Verdächtigungen hinsichtlich des Westens zu leben.

Nebenher hatte sich herausgestellt, dass das Fundament, das Gerüst, die Decken und die tragenden Konstruktionen des Gebäudes des sowjetischen Sozialismus, die durch Stalin geschaffen worden waren, ungeachtet der laufenden Instandsetzung entsprechend dem Verlauf des Lebens, die durch andere Führer vorgenommen wurde, die Grundlage dessen formierten, was Gorbatschow unter dem Namen „entwickelter Sozialismus“ als Erbe zufiel.

Wirtschaftsrezepte der Perestroika suchte man sowohl „in den Reihen der zivilisierten Vertreter der Bewegung der Kooperativen“ als auch in Pachtbeziehungen, sowohl in bewertenden Parametern unter Berücksichtigung vertraglicher Pflichten als auch in der neuen Preisbildung für neue Erzeugnisse, sowohl in der Reform der Großhandelspreise als auch bei den Wahlen von Führungskräften. Und all dies – versteht sich – auf der Grundlage des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Vom Kapitalismus und privaten Eigentum als solches hatte keiner gesprochen.

Parallel wurde die Rolle der Parteiorganisationen und des KGB abgeschwächt – der beiden durchgehenden vertikalen Spieße des Stalinismus, auf die 70 Jahre lang alle Sphären des sowjetischen Lebens aufgespießt wurden. Der Parteiapparat hatte nicht gewusst, wie man ohne Gewalt und einer einmütigen Abstimmung führen kann, und verwandelte sich sehr schnell in den Hauptwidersacher der Gorbatschow-Initiativen. Dies erlaubte Michail Sergejewitsch, eine Zerschlagung der Partei – des Hauptfeindes der Perestroika und der Glasnost – zu beginnen. Es stellte sicheraus, dass es in der Partei keinerlei Einheit gibt. Dies ist ein Mythos aller totalitären und autoritären Regimes. Für Gorbatschow war es angenehmer gewesen, sich mit der parteilosen künstlerischen Intelligenz – Journalisten, Schriftsteller, Filmemachern -, denn mit den Mitgliedern des ZK zu unterhalten.

Die Logik der Perestroika erforderte ein zunehmendes Anwerben von Verbündeten und Anhängern. Zum Codewort für den Erhalt einer Finanzierung für die eigenen Pläne wurde „Perestroika“.

Bereits drei Jahre nach dem Machtantritt von Gorbatschow waren alle Segmente des Wirtschafts- und des gesellschaftlichen Lebens von der Perestroika erfasst worden. Umgekrempelt wurden die Schul- und die Vorschul-, die Hochschul- und die Berufsausbildung, die Landwirtschaft und die Industrie für die Landwirtschaft, die Erzeugung und Aufbewahrung landwirtschaftlicher Erzeugnisse, der Automobilbau und die Schwerindustrie, der Werkzeugmaschinenbau mit numerisch gesteuerten Anlagen und Gesenkschmieden…

Wie die Theorie lehrt, führt eine gleichzeitige Entwicklung von allem unweigerlich zu einem Aufsplitten und Verschleudern von Ressourcen, zu einem Rückgang der Rentabilität der eingesetzten Mittel, zu einer Zunahme des Mangels an allen Typen von Ressourcen. Wenn irgendetwas von allen gleichzeitig getan werden muss, mangelt es sowohl an Managern, Projekten, Ressourcen und Geldern. Gerade daher besteht eine andere Theorie – die von Albert O. Hirschman – auf einem unausgewogenen Wachstum, das erlaubt, die begrenzten Ressourcen des Staates für die Schlüsselsektoren der Wirtschaft einzusetzen, wobei damit Orientierungspunkte für eine private Initiative geschaffen.

Sehr bald hatten die Maßstäbe der unvollendeten Bauarbeiten und der nichtrealisierten Erzeugnisse um ein Mehrfaches jegliche Normative überstiegen. Einerseits arbeitete die Wirtschaft immer mehr für die Lager der Fertigerzeugnisse. Laut einzelnen Schätzungen schafften es vom Wert her 77 Kopeke von jedem Rubel an neuhergestellten Industrieerzeugnissen nur bis zum entsprechenden Lager. Andererseits führte die Nachfrage nach einer Finanzierung für alles, was sich als ein Resultat der Perestroika ausgegeben hatte, dazu, dass die Druckmaschinen in Gang gesetzt wurden. Und dies machte den Rubel bald zu einem „hölzernen“, zu einem wertlosen.

Und es wurde offensichtlich, dass die sowjetische Wirtschaftswissenschaft unter den Bedingungen des Nichtvorhandenseins repressiver Methoden für eine Nötigung zur Arbeit hilflos ist. Wie die Menschen für eine freie Arbeit in den staatlichen Unternehmen motiviert werden können, wusste keiner. Als man aber Kooperativen erlaubte, erfolgte über sie eine großangelegte Konvertierung bargeldloser Mittel der sozialistischen Unternehmen in Bargeld „zivilisierter Vertreter der Kooperativen“, die diesen Unternehmen irgendwelche Leistungen gewährt hatten. Sozusagen auf der Grundlage der Prinzipien eines Outsourcings. Doch mit den Zielen der Perestroika hatte solch eine Praxis nichts zu tun. Dies ist lediglich ein weiterer Beleg für den universellen Charakter der Motive, die eine normale Wirtschaft bewegen. Eines normalen in diesem Kontext bedeutet antisozialistischen, antisowjetischen, nicht mit Arbeit verbundenen, bourgeoisen, kapitalistischen, kriminellen…

Daher hatten die letzten Jahre der Perestroika den Enthusiasmus verloren, die Euphorie und das Vorgefühl von einem kollektiven Glück. Das Weltempfinden der Menschen atomisierte sich bis zum Extremen, die Degradierung der Institute des Staates brachte bald ein Gefühl von Verfall und Ruin: dreckige Hauseingänge, schmutzige Schaufensterauslagen, nichtgefegte Fußwege, Bezugsscheine für Zigaretten, Zucker und Wodka. Eben so war das emotionale Spektrum der Epoche. Die Entfremdung der Herrschenden von der Gesellschaft nahm zu.

Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskatastrophe der Perestroika waren offenkundige die Leistungen auf dem Gebiet einer Erweiterung der Grenzen für die politische Freiheit. Informelle Vereinigungen, neue Parteien, Wahlen, Plattformen, Manifeste und Charta – die Mannigfaltigkeit des politischen Artikulierens und des politischen Angebots waren ein schwaches Gegengewicht zu den leeren Ladenregalen und dramatisch zurückgehenden Realeinkommen.

Dabei sind den außenpolitischen Leistungen Gorbatschows lange historische Erinnerungen und eine Dankbarkeit der Nachfahren beschieden. Er hat den Kalten Krieg beendet, erlaubte das Reisen ins Ausland, schaffte die Zensur ab, vereinfachte den Zugang zu den internationalen Kulturwerten…

Übrigens, die Offenheit der Grenzen führte zu einer massenhaften Korrektur der Vorstellungen der sowjetischen Menschen über die Standards für die Qualität von Waren und Leistungen. Es stellte sich heraus, dass die tatsächliche Qualität der sowjetischen Waren vor allem der Epoche des postrevolutionären und Nachkriegswarenhungers und des totalen Mangels entsprach. Das Urteil gegen das sowjetische Modell einer Planwirtschaft fällten die Bürger. Nicht die Feinde des Sozialismus und Interventen, sondern sowjetische Komsomolzinnen und Komsomolzen, Kommunisten und parteilose Verbraucher, die dem System der staatlichen Qualitätsstandards NEIN gesagt hatten. Der ausländische Markt generierte eine endlose Vielfalt von Waren akzeptabler Qualität als Antwort auf die zahlungskräftige Nachfrage.

Der Abschied von der sowjetischen Planwirtschaft erfolgte ohne Tränen und Wehklagen. Die Wirtschaft der Perestroika hatte die Bürger nicht geliebt. Und die antworteten ihr mit einer Retourkutsche.

Ich werde stets Michail Sergejewitsch dafür dankbar sein, dass er uns Freiheit gegeben hat, darunter die Freiheit des Suchens nach einer adäquaten Staatlichkeit und nach einem annehmbaren Wirtschaftsmodell für eine Entwicklung. Dass er mit allen Kräften ein Blutvergießen im Interesse ideologischer Hirngespinste vermied. Und als er begriff, dass die Idee von einer nationalen Souveränität in den Unionsrepubliken total populär ist, hat er mit Würde den Kreml verlassen, nachdem er die Flagge der UdSSR eingeholt hatte.

Zwischen dem Staat, der Ideologie und dem Menschen hat Gorbatschow kompromisslos den Menschen gewählt. Seine Rechte, Freiheiten und sein Glück