Beim Forum „Kommunales Russland“, das durch das Projekt „Vereinigte Demokraten“ von Andrej Piwowarow organisiert worden war, wollten Lokalabgeordnete die Wahlkampagne diskutieren. Vorgesehen war, dass das Bündnis unabhängiger Abgeordneter unabhängigen Kandidaten bei den Wahlen zur Staatsduma und den lokalen Parlamenten helfen wird. Das heißt: Diese horizontale Struktur soll zu einer gewissen Absicherung für die Stäbe von Alexej Nawalny und des „Smart Votings“ („kluges Abstimmen“) im Falle ihrer Zerschlagung werden. Und der hinter den „Vereinigten Demokraten“ stehende Michail Chodorkowski kann die personelle Auffüllung für das „Smart Voting“ kontrollieren.
Bei den „Vereinigten Demokraten“ hatte man das Forum unabhängiger Abgeordneter „Kommunales Russland“ für den 13. und 14. März angekündigt, und es sollte in Moskau als eine Versammlung stattfinden.
„Die Herrschenden versuchen, uns zu beweisen, dass die Wahlen nicht wichtig seien. Auf föderaler Ebene wird keinerlei Freiheit zugelassen. Die hörige Mehrheit in der Staatsduma und im Föderationsrat billigt die anrüchigsten Initiativen des Kremls. Und die Stimme des Volkes ist praktisch nicht zu hören“, hieß es in der Ankündigung zur Einberufung des Forums.
Daher war man bei den „Vereinigten Demokraten“ der Auffassung, dass gerade die örtlichen Regierenden zur Hauptmöglichkeit für unabhängige Politiker werden, um sich zu verwirklichen. „Hier gibt es mehr Freiheit. Gerade hierher kommen unabhängige Aktivisten, engagierte Bürger und verändern real das Leben ihrer Stadt oder ihres Stadtbezirks zum Besseren. Wir sind der Auffassung, dass gerade von der kommunalen Ebene aus die Wiedergeburt einer wahren politischen Konkurrenz in Russland beginnen kann“. Früher hatten sich die „Vereinigten Demokraten“ hauptsächlich mit einer Hilfe für oppositionell eingestellter Kandidaten befasst. Nun aber war das Ziel erklärt worden, „unabhängige Abgeordnete aus verschiedenen Regionen des Landes zu vereinen sowie einen Meinungsaustausch und eine Zusammenarbeit im Vorfeld der Parlamentswahlen des Jahres 2021 anzubahnen“. Unter den Hauptrednern des Forums waren solche Oppositionellen wie der Ex-Bürgermeister von Jekaterinburg Jewegnij Roisman und der Leiter der Boris-Nemzow-Stiftung Wladimir Kara-Murza erwartet worden.
Es sei daran erinnert, dass sich Roisman in der letzten Zeit den Nawalny-Vertretern ernsthaft angenähert hat. Aber er geht dabei auch nicht von solchen Projekten Chodorkowskij wie die „Vereinigten Demokraten“ ab. Dies bedeutet wahrscheinlich, dass es Versuche gibt, eine zu den Nawalny-Stäben alternative horizontale Struktur für den Fall zu organisieren, dass sein regionales Netz durch die Herrschenden zerschlagen und damit folglich auch das „Smart Voting“ fraglich wird. Jedoch ist nicht vollends klar, ob diese zwei Strukturen konkurrierende sein oder – im Gegenteil – sich einander ergänzen werden. Bei den „Vereinigten Demokraten“ erinnerte man daran, dass bei den Kommunalwahlen des vergangenen Jahres das „Smart Voting“ rund 80 Prozent der Kandidaten der „Vereinigten Demokraten“ unterstützt hatte.
Alexej Makarkin, 1. Vizepräsident des Zentrums für politische Technologien, hat allerdings nicht ausgeschlossen, dass zwischen den zwei horizontalen Strukturen ein Widerspruch auftreten könne. Das „Smart Voting“ sei vor allem für eine Unterstützung des stärksten Kandidaten der Opposition ausgelegt. Die „Vereinigten Demokraten“ würden aber augenscheinlich nur den ideologisch nahestehenden Kandidaten aus dem demokratischen Spektrum helfen. Und es könne durchaus dazu kommen, dass in irgendeinem Wahlbezirk der Demokrat ein Rating von fünf Prozent und der Kommunist beispielsweise 20 Prozent hat. Oder zwischen ihnen könne – einmal angenommen – ein geringer Unterschied bestehen. Folglich sei nach Meinung des Experten ein Zusammenwirken im Rahmen des „Smart Votings“ vorerst nicht offensichtlich. „Es ist bereits bei den Wahlen zur Moskauer Stadtduma dazu gekommen, dass Nawalnys Stab Roman Juneman in Moskau unterschätzte und den Kommunisten Wladislaw Schukowskij unterstützte. Im Endergebnis aber siegte „Einiges Russland“. Daher sieht die horizontale Vereinigung der „Vereinigten Demokraten“ vorerst mehr wie eine Alternative zum „Smart Voting“ denn als dessen Ergänzung aus“, erläuterte Makarkin.
Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow denkt, dass „die Opposition sich bemüht, eine Erfolgsgeschichte zu schaffen. Alles hängt aber von den Ressourcen ab“. Für die „Vereinigten Demokraten“ würde es sich lohnen, den Versuch zu unternehmen, ihre Kandidaten auf kommunaler Ebene aufzustellen, da die administrativen Ressourcen in erster Linie bei den Wahlen zur Staatsduma und zu den Regionalparlamenten eingesetzt werden würden. „Hier gibt es aber zwei Probleme: das Fehlen von Geld und einer PR-Kampagne. Die gesamte Aufmerksamkeit nicht nur der Offiziellen als auch der Gesellschaft wird den Duma-Wahlen gelten. Und wenn da die „Vereinigten Demokraten“ die Staatsduma-Kandidaten von der Opposition unterstützen, werden alle davon zu reden beginnen“, unterstrich der Experte. Er vermutet, dass beide Projekte doch keine alternativen seien. Sie würden wahrscheinlich beginnen, einander zu ergänzen. Das heißt, die „Vereinigten Demokraten“ werden dem „Smart Voting“ helfen. Nach Meinung von Kalatschjow könne man durch die Anstrengungen allein der „Vereinigten Demokraten“ eine Unterstützung für die oppositionellen Kandidaten sichern, aber nicht überall, sondern eher punktuell, was die Wahlsituation bestimmt nicht verändern werde.
Alexej Kurtow, Präsident der Russischen Vereinigung politischer Berater, merkte gegenüber der „NG“ an: „Für die Opposition lohnt es sich immer, an den Wahlen teilzunehmen – in der einen oder anderen Weise. Eine Unterstützung ihrer Kandidaten über ein Netz aktiver Abgeordneter ist durchaus logisch. Im Unterschied zu den Herrschenden hat die Opposition keine so großen Ressourcen“. Der Experte unterstrich, dass, da die Offiziellen alle Ebenen der Willensbekundung des Volkes kontrollieren würden, bei jeglichem Kräfteverhältnis die Wahlen jeglicher Ebene für die Opposition ohne ein Zusammenlegen eines Maximums an Kräften und ohne eine notwendige Motivation nicht erfolgen könnten. Kurtow betonte jedoch, dass, obgleich die Rolle des „Smart Votings“ unter den Oppositionellen leicht überbewertet sei, das kommunale Projekt der „Vereinigten Demokraten“ wie eine gewisse Symbiose mit diesem System aussehe.
Es kam jedoch am Samstag ganz anders. Nach nicht einmal 30 Minuten kamen Polizeibeamte zum Veranstaltungsort des Forums in einem der Hotels an der Moskauer Ismailowskoje-Chaussee und nahmen rund 200 Personen wegen einer Verletzung der sanitär-epidemiologischen Normen fest. Im Polizei-Deutsch sah dies dann so aus: „In einem der Hotelkomplexe an der Ismailowskoje-Chaussee hatte eine Gruppe von Bürgern – Vertretern einer gesellschaftlichen Organisation – den Versuch der Abhaltung einer öffentlichen Veranstaltung unter Verletzung der festgelegten sanitär-epidemiologischen Anforderungen unternommen. Be einem erheblichen Teil der Teilnehmer fehlten individuelle Schutzmittel. Außerdem wurden unter den Teilnehmern Mitglieder einer Organisation festgestellt, deren Tätigkeit auf dem Territorium der Russischen Föderation als eine unerwünschte anerkannt wurde“, teilte man der russischen staatlichen Nachrichtenagentur TASS im Pressedienst der hauptstädtischen Hauptverwaltung des Innenministeriums mit. „In die territorialen Organe des Innern sind rund 200 Personen gebracht worden. Durch die Mitarbeiter der Polizei wurden die widerrechtlichen Handlungen unterbunden. Es erfolgt eine Überprüfung“.
Anfangs hatte von der Festnahme von 170 Teilnehmern des Kongresses der „Vereinigten Demokraten“ Marina Litwinowitsch, Mitglied der Gesellschaftlichen Beobachterkommission Moskaus, der Agentur TASS berichtet. Ihnen wurde vorgeworfen, unter den Artikel 20.33 des Ordnungsstrafrechts der Russischen Föderation (Vornahme einer Tätigkeit einer ausländischen Nichtregierungsorganisation in der Russischen Föderation, der gegenüber die Entscheidung über die Anerkennung als eine unerwünschte getroffen worden war) zu fallen. Laut Gesetz droht gemäß diesem Artikel denjenigen, die dagegen verstoßen haben, eine Ordnungsstrafe in einer Höhe von 5.000 bis 15.000 Rubel (umgerechnet ca. 57 bis 171 Euro).
Unter den Festgenommen waren unter der Moskauer kommunale Abgeordnete Ilja Jaschin, der Vorsitzende der Boris-Nemzow-Stiftung Wladimir Kara-Murza, Jewgenij Roismann, der Petersburger Stadtparlamentarier Maxim Resnik und Julia Galjamina, kommunale Abgeordnete im Moskauer Timirjasew-Stadtbezirk. Sie allen wurden auf Polizeistationen in den Stadtbezirken Nowogirejewo und Perowo gebracht.
Auf Anfrage von „ngdeutschland“ bestätigte die Autorin dieses Beitrags – Daria Garmonenko – die Auflösung des Forums. Nach Erfassung der Personendaten und Abfassung von Protokollen (die die Grundlage für Ordnungsstrafverfahren mit entsprechenden Strafen bilden) wurden die Festgenommen wieder auf freien Fuß gesetzt.