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„Ein Maskenball“ als eine psychoanalytische Sitzung


Im Opern- und Ballett-Theater von Samara hat endlich das Warten auf die Premiere der Verdi-Oper „Ein Maskenball“ ein Ende gefunden. Sie sollte eigentlich im April vergangenen Jahres erfolgen, wurde aufgrund der Coronavirus-Pandemie verschoben und wurde jetzt zum ersten großen Ereignis des schweren COVID-Jahres. Das Inszenierungsteam leiteten Philipp Rasenkow (Chefregisseur des Baschkirischen Opern- und Ballett-Theaters) und der Chefdirigent des Theaters, Jewgenij Chochlow.

Diese Oper ist mehr als eine Repertoire-Oper. Zu sehen ist sie im Moskauer Bolschoi, im Petersburger Marinskij, in der hauptstädtischen Helikon-Oper, im Nowosibirsker Opern- und Ballett-Theater, im Michailow-Theater in der Newa-Metropole, im Theater von Ulan-Ude… Und in diesem Sinne überholt sie viele andere Werke des reifen Verdis, die ungefähr in den gleichen Jahren geschrieben worden waren – „Die Macht des Schicksals“, „Simon Boccanegra“, „Don Carlos“ u. a. Das klare Sujet (im Unterschied beispielsweise zu „Der Troubadour“) mit einer fesselnden Liebes-Intrige und Detektivgeschichte sowie die herrliche und dabei recht dynamische Musik voller Farben und Einfälle fördern die Wahl der Theater.

Das Libretto von Antonio Somma zu einem Text von Eugène Scribe basiert auf realen Ereignissen – der Ermordung des schwedischen Königs Gustav III. bei einem Ball im von ihm erbauten Stockholmer Operntheater (1792). Die italienische Zensur hatte die Ermordung eines Monarchen für inakzeptabel gehalten. Und nach zwei Jahren Leiden und Strapazen fand sich ein Ausweg: Die Helden „zogen“ nach Amerika um, Gustav verwandelte sich in den Gouverneur von Boston Riccardo (Richard) und Graf Anckarström, sein Mörder – in seinen FreudnRenato. Zwischen ihnen – Amelia, eine erfundene Person, Renatos Gattin und Geliebte von Riccardo.

Die Oper inszeniert man heutzutage mitunter in der ursprünglichen, der „schwedischen“ Version, aber weitaus häufiger dennoch in der amerikanischen, die man auch in Samara auswählte. Der Regisseur verlegte die Handlung in die Mitte des 20. Jahrhunderts und fügte dem Hauptsujet ein paralleles hinzu. Riccardo erlangt ein Alter Ego in Gestalt eines „kleinen Menschen“ (in dieser Rolle ohne Worte agiert Vitalij Nuschtajew), der ihm hilft, sich von der Seite aus anzuschauen und zugleich auch zu begreifen, dass er doch auch kein so unschuldiges Opfer ist. Eher umgekehrt: ein Sündiger und Egoist, der zu viele Menschen gekränkt hat. Diese Reisen aus der Realität in die Welt des Unterbewusstseins hilft Riccardo ein spiegelnder Helm in Maskenform zu unternehmen, den ihm zum ersten Mal die Wahrsagerin Ulrica aufsetzt, die Riccardo einen baldigen Tod durch den Freund voraussagt. Ihre Rolle, wie auch überhaupt alles Mystische und Übernatürliche ist hier verstärkt worden: Die Wahrsagerin taucht in den Schlüsselszenen als Verkünderin des unerbittlichen Schicksals auf.

Die interessant konzipierten hintergründigen Gedanken aus dem Bereich der Psychoanalyse sind allerdings nicht immer klar auszumachen und zu erfassen: Der Doppelgänger Riccardos scheint nicht immer zu wissen, was er auf der Bühne zu tun hat und macht mitunter irgendwelche merkwürdigen Körperbewegungen – mal schleppt er schwere Steine, mal gestikuliert er mit den Händen, buchstäblich wie Allan Tschumak (ein Wunderheiler, der im russischen Fernsehen Ende der 1980er/Anfang der 1990 ständiger Gast war – Anmerkung der Redaktion). Seine Figur verweist uns auf die Inszenierung von Andrij Scholdak „Eugen Onegin“ im Petersburger Michailow-Theater, die seinerzeit viel Rummel ausgelöst hatte und in der es auch einen „kleinen Menschen“ gibt, der im Programmheft als Diener Onegins bezeichnet wurde. Tatsächlich wurde er von Zuschauern und Kritikern entweder als Mohr oder als Abgesandter höchster Kräfte oder als Alter Ego des Haupthelden und sogar des Regisseurs an sich wahrgenommen.

Und noch eine Neuerung. Die Verwandlung Oscars, des Pagen von Riccardo, in eine Frau, überdies auch noch in seine Liebhaberin. Hier scheint der Regisseur einen Volltreffer erzielt zu haben, indem er das psychologische Porträt der verderblichen und sündigen Persönlichkeit Riccardos vollendete. Der ist überdies auch noch ein Wüstling und Betrüger. Das Liebesdreieck gerät aus den Fugen: Wer von den dreien liebt denn? Riccardo nicht, stellt sich heraus. Renato ebenfalls nicht. Er ist ein eifersüchtiger und kein liebender Gatte. Scheinbar hat allein nur Amelia Gefühle, ein wahres Opfer der Umstände, die nach Aussagen von Philipp Rasenkow zwischen zwei „nicht sehr guten Männern“ geraten war.

„Ein Maskenball“ ist eine besondere Oper für den Dirigenten Jewgenij Chochlow. Gerade mit ihr debütierte er in Italien. Zu spüren sind seine genauen, tiefgründigen Kenntnisse der Partitur, der durchdachte Charakter der Tempi, die Ausgestaltung der Balance des Orchesters mit den Sängern. Und was für welchen! Die Besetzung des ersten Premierenabends war einfach ausgezeichnet. Dies waren die engagierten Iwan Gayngasow (Solist an der Moskauer Helikon-Oper) in der Rolle Riccardos, Wladislaw Sulimskij (Solist des Petersburger Marinskij-Theaters, ein wahrer Verdi-Bariton) als Renato, Agunda Kulajewa (eine charismatische Solistin des Bolschoi-Theaters) als Ulrica. Amelia und Oscar sangen eigene Solisten – Tatjana Larina mit einem mächtigen Sopran und Irina Janzew – dagegen mit einer geringeren Stimme. Nachdem sie etwas schüchtern angefangen hatte, vermochte sie näher zum Finale hin mit einer guten Stimme zu überzeugen.

Visuell ist die Inszenierung im Noir-Stil vorgenommen worden (Bühnenbild: Ernst Heidebrecht). Auf dem schwarzen Rückprospekt der Bühne taucht mal ein schwarzes, im direkten Sinne des Wortes „Meer“ auf, mal sich bewegende grau-schwarze geometrische Figuren oder über Glas zerlaufende dunkle Tropfen – oder vielleicht doch Tränen? In die düsteren schwarz-grauen Farbtöne dringt periodisch lediglich blutrote Farbe ein – die roten Gewänder Amelias, ein rotes Band beim Ball von Riccardo, rote Handschuhe der Verschwörer. Da möchte man gern die Inszenierung auch mit „Le Rouge et le Noir“ – „Rot und Schwarz“ – wie der Roman von Stendhal betiteln. Übrigens, da gibt es ebenfalls ein „unglückliches“ Liebesdreieck und gleichfalls ein trauriges Finale…