Am Vorabend des russisch-amerikanischen Gipfels in Genf ist die NATO an den Grenzen der Russischen Föderation aktiver geworden. In Nordeuropa haben die Luftwaffenmanöver „Arctic Challenge Exercise“ (ACE 21 – „Arktische Herausforderung“) begonnen, an denen rund 70 Kampfflugzeuge der Luftstreitkräfte Schwedens und Finnlands, aber auch Flugzeuge aus sechs NATO-Ländern – Norwegen, Großbritannien, Deutschland, Dänemark, Niederlande und USA – teilnehmen. In der russischen Botschaft in Washington erklärte man, dass die Manöver „der friedlichen Entwicklung der Arktis-Region widersprechen“.
Die Schlussfolgerungen der russischen Diplomaten decken sich mit der Äußerung von General Jeffrey Lee Harrigian, Befehlshaber der United States Air Forces in Europe – Air Forces Africa (USAFE-AFAFRICA; deutsch: Luftstreitkräfte der Vereinigten Staaten in Europa – Luftstreitkräfte Afrika), der sagte, dass bei ACE 21 „die Einheiten sich auf offensive und Verteidigungsszenarien konzentrieren werden, die aus Luft-Luft- und Luft-Boden-Missionen bestehen“.
Weshalb man in der Arktis lernen müsse, offensive Operation durchzuführen, hat der General nicht präzisiert. Er sagte auch nicht, wer bei diesen Manövern der wahrscheinliche Gegner sein könne. Obgleich man früher in den USA und im Nordatlantikpakt die Russische Föderation als potenziellen Feind bezeichnete. Nach Meinung von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, die er am 7. Juni nach einem Treffen mit US-Präsident Joseph Biden äußerte, „muss man Russland zügeln“. Diesen Zielen dient auch das andere großangelegte NATO-Manöver „Baltops“, dass am 6. Juni in der Ostsee-Region startete. An diesen „Jubiläums“-Manövern, die bereits zum 50. Mal abgehalten werden, nehmen 16 Mitgliedsländer der Allianz teil, aber auch Schweden und Finnland. Sie werden bis zum 18. Juni andauern. Insgesamt kommen 40 Schiffe, 60 Flugzeuge und Hubschrauber sowie alles in allem 4.000 Militärangehörige zum Einsatz. Betont wird, dass im Verlauf der Manöver „Operationen zur U-Boot-Bekämpfung, Luftabwehr und Minenbekämpfung trainiert werden, aber auch das Anlanden von Kräften an Litauens Küste“.
Das Anlanden von Marineinfanteristen der NATO in Litauen bedeutet, dass die Operation in unmittelbarer Nähe zum Verwaltungsgebiet Kaliningrad erfolgen wird, wo sich der wichtigste Marinestützpunkt der russischen Baltischen bzw. Ostseeflotte befindet. Und dies ist natürlich ein alarmierendes Signal. Zumal am vergangenen Montag die Premiers von Litauen, Lettland und Estland eine gemeinsame Erklärung abgegeben haben, in der sie erneut der Russischen Föderation vorwarfen, dass sie angeblich anstrebe, die NATO zu destabilisieren, und die Sicherheit der Verbündeten gefährde. Dabei unterstrichen sie die Wichtigkeit einer weiteren militärischen Präsenz der Verbündeten in den baltischen Staaten und die Notwendigkeit, die militärische Zusammenarbeit der Staaten des Baltikums zu entwickeln.
Moskau bereitet Antwortmaßnahmen vor. „Es haben sich neue Herausforderungen und Bedrohungen im Zusammenhang mit der Ausdehnung der NATO-Präsenz in der baltischen Region in unmittelbarer Nähe zu den Grenzen der Russischen Föderation ergeben.“ So charakterisierte im Mai der Oberkommandierende der Seestreitkräfte Russlands Nikolaj Jewmenow die Situation. Nach seinen Worten „ist die Frage zur Ausrüstung der Baltischen Flotte mit Diesel-U-Booten, neuen Flugapparaten und Küstenkomplexen geklärt worden“. „Die U-Boot-Komponente der Baltischen Flotte wird dem Umfang der Aufgaben entsprechen, die vor der Flotte stehen“, erklärte er am 18. Mai aus Anlass des 318. Jahrestages der Bildung der Baltischen Flotte.
Die verstärkt man aber nicht nur mit U-Booten. Wie der Befehlshaber der Baltischen Flotte, Admiral Alexander Nosatow, mitteilte, werden die für die Baltische Flotte gebauten neuen kleinen Raketenschiffe des Projekts „Koselsk“ und „Grad“ für Andock-Erprobungen vorbereitet. Sie werden mit den Raketenkomplexen des Typs „Kaliber-NK“ ausgerüstet. In der Perspektiven könnten sie auch mit „Onyx“-Flügelraketen und „Zirkon“-Hyperschallraketen, zu denen die NATO bisher kein Gegenmittel hat, ausgestattet werden. Im Bestand der Baltischen Flotte gibt es aber bereits jeweils zwei Schiffe der erwähnten Klassen. Im Ostseeraum wird auch die Gruppierung von Landstreitkräften vervollkommnet. Laut offiziellen Angaben der Baltischen Flotte hat des 11. Armeekorps im Verwaltungsgebiet Kaliningrad jüngst eine Partie modernisierter Panzer vom Typ T-72B3M und neuen Schützenpanzerwagen vom Typ BMP-3 erhalten. Dabei hatte Nosatow im vergangenen Dezember erklärt, dass im Kaliningrader Gebiet eine neue Division gebildet werde.
Dieser Tage haben Besatzungen der Mehrzweck-Kampfjets Su-35S eine Verlegung aus der Republik Karelien in das Gebiet Kaliningrad und zurück trainiert, wobei sie parallel Übungsgefechtsaufgaben lösten. Betont wird, dass diese Aufgaben „in maximal geringen Höhen sowie bei Führung eines Gruppen- und individuellen Luftkampfes“ trainiert wurden. Und in der Nordmeerflotte haben großangelegte Manöver mit Militärs verschiedener Waffengattungen begonnen, an denen über 20 Schiffe und U-Boote, Flugzeuge und Küsteneinheiten der Nordmeerflotte teilnehmen. Vorgesehen wurde, dass sie trainieren werden, „beim Schutz und der Verteidigung eines Konvois von Kriegsschiffen vor U-Booten des angenommenen Gegners und Luftangriffsmitteln zu handeln sowie Schiffsgruppierungen des potenziellen Feinds abzuwehren“. Zur hauptsächlichen und abschließenden Etappe der Manöver wurde, wie die Nordmeerflotte mitteilte, die „Durchführung von Gefechtsschießübungen durch Schiffsbesatzungen“.
„Natürlich, solche Manöver sind keine Entscheidung Russlands“, meint der Militärexperte Oberst Wladimir Popow. „Bei den Primakow-Lesungen hatte der Berater des russischen Präsidenten Jurij Uschakow erklärt, dass sich die Situation in der Welt weiter verkompliziere. Es degradiere das globale Sicherheitssystem. Und insgesamt nehme das Konfliktpotenzial zu. Und auf diese Herausforderungen muss die Russischen Föderation reagieren“, erklärte Popow der „NG“. „Und da steht vor Russland die wichtige Aufgabe, nicht zu einem Wettrüsten abzugleiten und seine nationale Sicherheit zuverlässig zu verteidigen“, betonte der Experte.