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Valerij Gergijew brachte die „Jungfrau von Orléans“ ins Mariinski-Theater zurück


Im Mariinski-Theater hat man „Die Jungfrau von Orléans“ Tschaikowskis herausgebracht. Die Oper in einer Inszenierung von Alexej Stepanjuk unter der musikalischen Leitung von Valerij Gergijew wurde beim Festival „Stars der Weißen Nächte“ aufgeführt. Die Premiere hatte man zum Jubiläum Tschaikowskis vorbereitet, doch dies fiel in die Hochzeit der Corona-Pandemie und eines Lockdowns, so dass dieses Jahr „die Schulden begleicht“. Außerdem feiert die vom Komponisten im Auftrag der Direktion der Zarentheater geschriebene und 1881 uraufgeführte Oper „Die Jungfrau von Orléans“ in diesem Jahr ein eigenes rundes Datum, den 140. Jahrestag der Erstinszenierung.

Der Geschichte von Jeanne d’Arc hatte sich der Komponist gleich nach „Eugen Onegin“ zugewandt. Und der Kontrast der Grande Opera zu den „lyrischen Szenen“ wurde möglicherweise zu einer der Ursachen der Unterschätzung der „Jungfrau von Orléans“ – des seltenen Gasts auf den Theaterbrettern – durch die damaligen Zeitgenossen und Nachfahren. Und schließlich hatte der Tonschöpfer selbst mit einem Erfolg gerechnet, obgleich er auch aufgrund der Mittelmäßigkeit der Premieraufführung mit Kostümen „wie von der Stange“ enttäuscht gewesen war. Das Libretto der Oper ist vor allem entsprechend dem gleichnamigen Drama von Friedrich Schiller in einer Übersetzung von Wassili Schukowski niedergeschrieben worden, wobei der Komponist zum historischen Verlauf der Ereignisse zurückgekehrt war (bekanntlich kommt bei Schiller die Heldin nicht auf dem Scheiterhaufen ums Leben, sondern fällt auf dem Schlachtfeld). Aber ihre beiden berühmten Arien – „Lebt wohl, ihr, meine Felder und Wälder“ (1. Akt) und „Heiliger Vater, ich heiße Ioanna“ (4. Akt) – lassen den Geist der Romantik der Verse von Schukowski wiederauferstehen.

Die Oper erinnert durch seine Dimension an die Werke von Guiseppe Verdi und Modest Mussorgski, obgleich die religiöse Problematik und die Pathetik ihr eine Sonderstellung verschaffen. Nicht umsonst hatte sich das Kirow-Theater im 20. Jahrhundert der „Jungfrau von Orléans“ während des Großen Vaterländischen Krieges zugewandt. Die Inszenierung unter der Leitung von Boris Chaikin mit Sophia Preobraschenskaja in der Hauptrolle ist aufgrund der 1946 vorgenommenen Aufzeichnung gut bekannt. Freilich, die Oper an sich und ihr Libretto hatten zu Sowjetzeiten ernsthafte Entstellungen erfahren. Und patriotisches Pathos ersetzte die religiöse Exaltiertheit. Die Musik der Oper, eine sich einprägende und melodische, ist dennoch nicht frei von Allgemeinplätzen und korrespondiert auf seltsame Weise mehr nicht mit den Opern, sondern mit den Ballettwerken Tschaikowskis.

Ungeachtet der schweren Zeiten hat das Mariinski-Theater bei der Inszenierung nicht zu sparen begonnen. Die Aufführung von Alexej Stepanjuk, eine im Vielem dem Original folgende und in Vielem eine illustrative, hätte den Komponisten befriedigt. Und gefallen hat sie auch dem Publikum, dass die Aufführung bei den Premierenvorstellungen mit Enthusiasmus aufnahm. Der Regisseur, der viel und fruchtbar im Mariinski arbeitet, praktisch ein „eigener Mann“ ist, hat einerseits die Tradition des Inszenierens historischer Opern, die sich zu Sowjetzeiten herausgebildet hatte, fortgesetzt, andererseits bewusst einen Dialog mit dem Archaischen der Bühnensprache aufgenommen, wobei er dies durch einen schwarz-weißen Einschub unterstrich, auf dem Engel ein Wappen mit französischen Lilien halten. Die künstlerische Ausgestaltung der Inszenierung nahm Wjatscheslaw Okunjew vor. Gesondert hervorgehoben seien die ungewöhnlich gelungene Videoeinspielung von Viktoria Slotnikowa und die Lichtgestaltung von Irina Wtornikowa. Der äußere visuelle Eindruck der Inszenierung behindert den Hörer nicht, den Dialog zwischen Geschichte und Fiktion, zwischen Tschaikowski und Schiller sowie zwischen Lyrik und Pathetik zu vernehmen, und schafft außerdem einen herrlichen Rahmen für das Offenbaren der künstlerischen Individualitäten.

Für seine Heldin wählt Tschaikowski nach Schiller und Schukowski den Namen Ioanna, im Unterschied zu der bodenständigeren Jeanne. In der Oper ist kein Platz für Alltägliches. Sie ist ganz über das Hohe. Die Inszenierung beginnt in einem Wald, der von Sonnenstrahlen durchflutet wird und wo die dicken Baumstämme, so als hätte man sie schon irgendwo gesehen, an die Säulen einer Kathedrale erinnern. Danach verlagert sich die Handlung in ein Schloss von Karl VII., einem schwachen und untreuen Herrscher. Effektvoll ist die Krönungsszene in der Kathedrale von Reims. Die hohe Plattform in der Bühnenmitte wird mal zu einem Thron des Königs und mal zu einem Scheiterhaufen Ioannas, die sie im Finale hoch in den Himmel hebt. Im ersten Akt erscheinen Ioanna Engel, die ihr ihre Berufung verkünden und ihre heroischen Bemühungen segnen. Ihr Vater Tibo d’Arc aber (wie auch bei Verdi spielt der erfundene, historisch nicht belegte Vater Jeannes hier eine schicksalsschwere Rolle) bereitet ihr den gewöhnlichen Weg zu einer Hochzeit vor. Ioanna unterscheidet sich aber von den übrigen. Und dieser Unterschied macht sie in den Augen der umgebenden Menschen zuerst zu einer Heiligen, dann zu einer Sünderin und bringt sie im Finale auf den Scheiterhaufen.

Das Petersburger Theater hat vier Besetzungen für die Inszenierung vorbereitet. Und bei den drei Premierenaufführungen konnte man drei unterschiedliche Ioannas hören. Wie stets hatte das Haus die Besetzungen im letzten Moment bekanntgegeben. Und während alle abwogen und herumrätselten, wer von den Mezzo-Stars die erste Aufführung singen wird, wurde die Premiere durch Gergijew überraschenderweise der jungen Sopranistin Jekaterina Sannikowa anvertraut. Obgleich in der Partitur die Partie bei Tschaikowski als eine Soprano-Partie ausgewiesen wurde, singen sie traditionell nach Preobraschenskaja Mezzosopranistinnen. Die Stimme Sannikowas erklang leicht, ohne eine Anspannung. Alles war sehr qualitätsgerecht „getan“ worden – sowohl stimmlich als auch darstellerisch. Es ist zu spüren, dass die Sängerin über ein großes Potenzial verfügt. Doch es fehlte ein gewisses Gewicht in der Figur und im Timbre. Ioanna war in ihrer Darstellung weitaus mehr ein aufrichtiges Mädchen, das durch das Zusammenstoßen mit einer erwachten Sinnlichkeit, an Halt verloren hatte, zumal sie als Sünde und Verrat an ihrer Berufung wahrgenommen wurde. In der ersten Aufführung waren noch zwei weitere junge Sänger, die wie Sannikowa Stipendiaten des Atkins Young Artist Programs sind, zum Einsatz gekommen – Alexander Michailow in der Rolle von König Karl VII. und Wladislaw Kuprijanow als Djunua.

Mit besonderer Ungeduld wurde der Auftritt von Jekaterina Sementschuk in der Hauptrolle erwartet. Gerade ihre Ioanna gab der Figur, in der die Bürde schwerer Überlegungen und Entscheidungen zu spüren war, die Aura von Heroismus und hoher Pathetik zurück. Die Figur der Hauptheldin wurde zu einer wahrhaft tragischen, wie auch viele Rollen, die durch die Sängerin für das Mariinski-Theater im letzten Jahr gestaltet wurden. In dieser Hinsicht spielt der in den westlichen Ländern andauernde Lockdown uns in die Hände und erlaubt, häufiger Stars auf einheimischen Bühnen zu erleben (die Ioanna sang gleichfalls Jekaterina Gubanowa).

Beeindruckend und düster gestaltete sich das Finale der Oper. Anrührend klingt die Bitte Ioannas auf dem Scheiterhaufen, ihr ein Kreuz zu reichen. Und es senkt sich von einem Rost hinab, ein riesiges, ein glühendes, das durch sein Gewicht die kleine Figur der Heldin übertrifft. Die Plattform des Scheiterhaufens beginnt, in die Höhe zu gehen, weißen Lichtstrahlen entgegen, die von oben herabfallen.

Das Theater hat für die Oper ein beeindruckendes Ensemble zusammengestellt. Der hervorragende Jewgenij Nikitin sangt in allen drei Premierenaufführung den Tibo, Michail Petrenko prägte sich in der kleinen Rolle des Erzbischofs ein. Von den Königen war Sergej Skorochodow lebendiger und menschlich verständlicher. Alexander Michail aber entrückter. Seine Geliebte Agnès Sorel haben drei Solistinnen gesungen – Irina Tschurilowa, Jelena Stichina und Maria Bajankina. Der brutale Bariton Roman Burdenko offenbarte neue Facetten seines Talents, indem er als ein liebender Held – als der burgundische Ritter Lionel – agierte. In der Oper gibt es viele zweitrangige Personen, und groß ist die Rolle des Chores, so dass sie viele mit einem Oratorium vergleichen. Alle großen Chöre und Ensemblebilder wurden als statische und frontale zum Saal hin gestaltet, was einen wunderbaren Klang gewährleistete. Und natürlich erklang auch ausgezeichnet das Orchester unter Leitung von Valerij Gergijew, der als ein wahrer Demiurg dieser großangelegten Handlung in der ausführlichen Introduktion, den sinfonischen Zwischenspielen, den für das Genre einer Grand Opera unvermeidlichen „Allgemeinplätzen“ und in den erkennbaren Melodien (zum Beispiel der Chor der Minnesänger – dies ist das „Alte französische Liedchen“ aus dem „Kinderalbum“) auftrat. Alles erklang mit solch einer Bewegung und Pathetik, dass nur blieb, sich darüber erstaunt zu zeigen, warum der künstlerische Leiter des Mariinski-Theaters bei seiner Liebe für vollständige Werksausgaben so lange gewartet hat, bis er sich diesem Werk Tschaikowskis zuwandte. Die Premierenaufführungen wurden zu einem großen Erfolg. Und es scheint, dass (die Oper) „Die Jungfrau von Orléans“ ernsthaft und für lange ins Repertoire des Mariinski-Theaters in ihrer Originalversion zurückgekehrt ist.