Die beim Parteitagtag von „Einiges Russland“ bekanntgegebene Top-5 der Parteiliste ist theoretisch, aus der Sicht der Polittechnologien korrekt zusammengestellt worden. Experten betonen, dass die Figuren von Sergej Schoigu, Sergej Lawrow, Denis Prozenko, Jelena Schmeljowa und Anna Kusnezowa sowohl an die Basisbedürfnisse der Wähler nach Schutz und Fürsorge appellieren, aber auch solche Prioritäten der Herrschenden zeigen würden, die bei einem Großteil der Menschen populär seien – Verstärkung der inneren und äußeren Verteidigung, Entwicklung des Bildungs- und Gesundheitswesens sowie Beachtung des sozialen Bereichs. Dabei hat Wladimir Putin nicht nur Schoigu nach mehr als zwanzig Jahren zu den Wahlen zurückgeholt, sondern sogar auch eine frühere Losung vom Herzen als ein elektorales Instrument. Scheinbar werden gerade diese sechs Namen – die Anführer der (Kandidaten-) Liste und der sie nominierende Präsident – auch zu einer Erklärung für den Wahlerfolg der Kremlpartei „Einiges Russland“. Die Fragen danach, auf welchen Wegen er in der Realität erzielt wird, werde in solch einem Kontext nach Meinung des Kremls keine große Bedeutung haben.
Der Präsident der Russischen Föderation, der persönlich beim Parteitag von „Einiges Russland“ erschien, erklärte den Mitgliedern der regierenden Partei, wie er zuvor auch versprochen hatte, dass man nicht einfach die Menschen erhören, sondern sie mit dem Herzen spüren müsse. Umso mehr die vom Volk gewählten, die ja die Interessen der Bürger über ihre persönlichen Interessen stellen und ein wahrhaft volksnahes Programm propagieren sollten. Das, wieviel zig Milliarden Rubel für den einen oder anderen Teil solch eines Programms verwendet werden, zählte Putin selbst ausführlich auf. Die Verkündung des vollständigen Wortlauts ihres Vorwahl-Manifestes vertagte „Einiges Russland“ auf den zweiten Teil des Parteitages, der in der zweiten Augusthälfte stattfinden soll.
Alles in allem kann man sagen, dass das Staatsoberhaupt in seiner Rede die ganz alte Losung vom Herzen als wichtigstes elektorales Instrument rehabilitierte. Freilich, 1996 war den Bürgern einfach angetragen worden, für Boris Jelzin „mit dem Herzen abzustimmen“. Jetzt aber ist vorgesehen, dass die Herzen der zu wählenden Personen und der Wähler unison schlagen sollen. Und es war durchaus logisch, dass Putin auch das eigene polittechnologische Know-how der ausgehenden 90er Jahre wiederbelebte – mit Verteidigungsminister Schoigu an der Spitze der Kandidatenliste der herrschenden Partei (obgleich er wohl nur als Zugpferd dienen soll und selbst gar nicht in die Staatsduma kommen wird – Anmerkung der Redaktion). 1999 hieß sie noch überregionale Bewegung „Einheit“ und verkürzt und im Volksmund – „Der Bär“.
Und dennoch sah doch die persönliche Vorgabe der gesamten Top-5 der Kandidatenliste durch Putin für die Partei wie eine beispiellose Sache aus, selbst wenn er auch auf vorangegangene Konsultationen verwies, darunter mit dem Parteichef von „Einiges Russland“ Dmitrij Medwedjew. Somit war es dem Präsidenten im Jahr 2016 insgesamt ganz egal, wer die Kremlpartei bei den Wahlen anführt. Jetzt aber hat er nicht nur die Namen genannt, sondern auch die nötige Reihenfolge ausgewiesen. Daher steht der Außenminister (der sicherlich ebenfalls nicht in der Staatsduma nach den Septemberwahlen sitzen wird – Anmerkung der Redaktion) gleich als zweiter hinter dem Verteidigungsminister – und erst nach ihnen kommen der Chefarzt des Krankenhaus im Moskauer Stadtteil Kommunarka Prozenko, die Co-Vorsitzende des Stabs der Gesamtrussischen Volksfront Schmeljowa und die Kinder-Ombudsfrau Kusnezowa.
Die Entscheidung Putins hat zweifellos einen klaren polittechnologischen Charakter. Der Grundgedanke besteht offensichtlich darin, ein hohes Ergebnis von „Einiges Russland“ bei den Wahlen durch das Verweisen auf die Autorität der fünf Namen aus der Parteiliste zu rechtfertigen, und das Wichtigste, durch den Hinweis darauf, dass so der Präsident persönlich entschieden habe. Dies ist ein recht riskantes Setzen, dass in dem Fall bedingungslos funktioniert, wenn sich der Kreml des Erreichens des nötigen Ergebnisses auf jeden Fall gewiss ist. Eben um es durch hehre Motive und überhaupt nicht irgendeine zügellose Anwendung administrativer Ressourcen zu rechtfertigen, ist auch die aus elektoraler Sicht glänzend zusammengestellte Top-5 der Parteiliste gebildet worden. Wenn jedoch im Verlauf der Kampagne klar wird, dass nicht nur Schoigu und Lawrow, sondern auch andere Figuren nicht in die Staatsduma kommen werden, so können die Wähler solch ein Vorgehen (berechtigt) als einen Betrug auffassen. Die „NG“ hat sich zwecks Erläuterungen an Experten gewandt.
Michail Winogradow, Präsident der Stiftung „Petersburger Politik“, erklärte: „Eine starke Seite der Liste von „Einiges Russland“ ist das Ausbleiben von Allergenen und der vergleichsweise hohe Popularitätsgrad jener, die bekannt sind, aber auch ihrer Funktionen. Dies ist eine Möglichkeit, die Themen des Schutzes, der Außenpolitik, der Ärzte, des Bildungswesens und der Kinder zu propagieren, ohne problematischere Bereiche vom Typ der Rentenreform und der Situation in der Wirtschaft zu akzentuieren. Zur gleichen Zeit aber ist zum heutigen Zeitpunkt der Bekanntheitsgrad von Prozenko, Schmeljowa und Kusnezowa begrenzt. Und die muss berücksichtigt werden“. Was aber die Situation mit COVID-19 angehe, so sei nach seiner Meinung wichtiger, was in der Gesellschaft dominieren werde – Besorgnis und Angst. Und da wird die Unterstützung für die Herrschenden größer sein. Oder aber die zunehmende Gereiztheit aufgrund der restriktiven Maßnahmen.
Der Präsident der Russischen Assoziation der Politkonsultanten, Alexej Kurtow, erinnerte die „NG“ daran, dass Schoigu 1999 faktisch „ins Wasser geht“. „In einem gewissen Sinne hat sich „Einiges Russland“ den Ursprüngen zugewandt. Damals hatte die Parteiliste Nutzen gebracht. Schoigu rettet, Karelin (Alexander Karelin, mehrfacher Olympiasieger und Weltmeister im klassischen Ringen unter den Superschwergewichtlern – Anmerkung der Redaktion) erteilt den Feinden eine Abfuhr, Gurow (Alexander Gurow, ehemaliger General der Miliz und Gegenaufklärung – Anmerkung der Redaktion) verteidigt. Daher ist jetzt auch die verständliche und genaue Message auszumachen, dass die Herrschenden die Beanstandungen der Menschen vernommen haben“. Außerdem erinnerte der Experte auch an die regionalen Kandidatenlisten, wo man den Versuch unternimmt, Menschen zu führenden Kräften zu machen, die geachtet werden und Ansehen genießen. In Petersburg beispielsweise wird die Vertreter von „Einiges Russland“ der Hermitage-Direktor Michail Piotrowskij anführen und überhaupt nicht der Chef des Stadtparlaments Wjatscheslaw Makarow. Nach Meinung von Kurtow würden solche Entscheidungen der regierenden Partei den Zustrom neuer Stimmen sichern. Doch die Zusammensetzung der Listen sei lediglich ein kleiner Teil des Erfolgs. Alles werde vom der (Wahl-) Kampagne abhängen. „Daher wird es bei einem Sieg der Partei „Einiges Russland“ wohl kaum gelingen, den Erfolg allein mit der Zusammensetzung der Liste zu erklären, obgleich jetzt der Kampf um die Schwankenden und Zweifelnden eröffnet worden ist. Und die COVID-Realität gereicht den Offiziellen nur zum Nutzen, denn in Zeiten von Krisen wendet sich die Mehrheit stets an die Herrschenden um Hilfe“, unterstrich der Experte.
Konstantin Kalatschjow, Leiter der Politischen Expertengruppe, erläuterte der „NG“, dass die Top-5 von „Einiges Russland“ symbolisch sei, da sie die Basis-Ideologemen der Offiziellen und die in der Gesellschaft dominierenden Prioritäten darstelle. „Der Akzent wird auf eine Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft hinsichtlich solcher Themen wie Souveränität und Patriotismus, Außenpolitik, Medizin und Bildungswesen gesetzt, und es werden Signale gegeben, dass die Priorität in der Staatsduma bei der künftigen Entwicklung liegen werde“. Und obgleich Schmeljowa und Kusnezowa nicht so bekannt seien, befassen sie sich mit populären Themen aus der Kategorie „Bild der Zukunft“. Beispielsweise ist eben jene Schmeljowa die Chefin des Zentrums „Sirius“ in Sotschi. Dabei sei in der (Kandidaten-) Liste auch ein Gleichgewicht hinsichtlich des Gender-Merkmals eingehalten worden, merkte Kalatschjow an, wobei er sie als die „wählbarste“ bezeichnete.
Kalatschjow bezweifelt aber, dass es mit solch einer Liste gelingen werde, denjenigen den Mund zu stopfen, die über die künftigen Ergebnisse der herrschenden Partei unzufrieden sein werden. Dies sei eher eine Konstruktion für Apolitische und Zweifelnde. „Dass aber 20 Jahre in Folge die ersten Nummern der Listen nicht in die Staatsduma gekommen sind, werden die Menschen schon nicht als Betrug wahrnehmen“, betonte er. Kalatschjow ist sich gewiss, dass „Einiges Russland“ die Verfassungsmehrheit durch die Direktwahlkandidaten, die regionalen Listen und die dreitägige Abstimmung erhalten werde, während in ihre Kampagne Haushaltsgelder föderaler und regionaler Ebene fließen werden. „Wenn „Einiges Russland“ einen bedingungslosen Wahlsieg erringt, so wird man diesen Verdienst natürlich in erster Linie dem Präsidenten zuschreiben, denn „Einiges Russland“ ist die Partei Putins. Aber auch die Namen aus der Liste werden ihre Rolle spielen. Den Kritikern wird man von den richtig ausgewählten Kandidaten, von einem Reagieren auf die Bedürfnisse der Gesellschaft, von einer Mobilisierung von Freiwilligen und Parteilosen sowie von neuen Leuten erzählen“, unterstrich Kalatschjow. Die COVID-Realität kann dennoch aber gegen die Herrschenden wirken, besonders wenn es die Offiziellen mit den restriktiven Maßnahmen übertreiben. „Wenn jedoch die Offiziellen einen Monat vor den Wahlen einen Sieg über die dritte Welle vermelden werden, so wird es eine Chance geben, innerhalb eines Monats den Unmut zu minimieren. Die Menschen haben ein kurzes Gedächtnis“, merkte der Experte an. Und ernsthafte Proteste zu den Wahlergebnissen erwartet er aber gar nicht, selbst wenn die Opposition und Wahlbeobachter über massenhafte Verstöße berichten werden. „Für die Herrschenden wird es keinerlei Sinn haben, einen Schatten auf den Sieg zu werfen und Protestierende auseinanderzujagen. Daher wird die technologische Vorgehensweise wahrscheinlich auch nach den Wahlen beibehalten werden“, nimmt Kalatschjow an.